Zum Abschluss der Berlinale: Grenzenlose Bilder
Der Preis für „Taxi“ ist verdient. Regisseur Panahis Film findet Trampelpfade zu anderen Berlinalebeiträgen – ein Netz der Metaerzählungen entsteht.
Frauen ohne Kopfbedeckung? Ausgeschlossen. Körperkontakt zwischen Männern und Frauen? Verboten. Krawattentragen? Nur, wenn die Figur ein Bösewicht ist. Übermäßige Gewalt? Unbedingt vermeiden. Schmutziger Realismus? Geht überhaupt nicht. Und die Figuren, die als gute ausgewiesen sind, mögen bitte Namen ehrwürdiger Gestalten aus der islamischen Überlieferung tragen.
So in etwa lauten die Vorgaben darüber, wie ein in Iran gedrehter Film auszusehen hat. Eine Lehrerin hat sie einem zehn Jahre alten Mädchen diktiert, und dieses Mädchen sitzt nun auf dem Beifahrersitz eines Taxis. Der Chauffeur, ihr Onkel, ist niemand anderes als der Regisseur Jafar Panahi, den ein Teheraner Gericht im Oktober 2011 in zweiter Instanz dazu verurteilt hat, keine Filme zu drehen, keine Drehbücher zu schreiben, das Land nicht zu verlassen und keine Interviews zu geben.
Das Mädchen trägt altklug die Regeln vor, während es mit einer kleinen Digitalkamera hantiert. Ein wenig später filmt es einen Jungen, der eine Banknote von der Straße aufhebt und einsteckt. Vielleicht fällt diese Handlung noch nicht unter die Kategorie des schmutzigen Realismus, aber das Mädchen ist dennoch verunsichert. Deswegen bittet es den Jungen, den Geldschein dem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben. Der Junge weigert sich zunächst. Als er sich endlich überreden lässt, nimmt ihn der Besitzer der Banknote gar nicht wahr.
In nuce enthält die Szene etwas, was zum Filmemachen dazugehört. Jedem Regisseur schwebt etwas vor, doch dann stößt er auf den Widerstand, den das Material und die Apparate leisten. Wer versucht, diesen Widerstand zu brechen, dreht meistens Filme, denen man den Gewaltakt anmerkt. Wer sich dagegen auf die Widerständigkeit einlässt, erreicht im Glücksfall besondere Formen von Wahrhaftigkeit.
Tränen bei der Preisverleihung
Am Samstag Abend steigt Hanna Saeidi, das Mädchen, das man aus dem Taxi kennt, auf die Bühne des Berlinale-Palasts, diesmal allerdings nicht in einer Filmrolle, sondern als sie selbst. In der Hand hält sie den Goldenen Bären, den Jafar Panahi wegen des Ausreiseverbots nicht persönlich annehmen kann. Als sie am Pult ankommt, reckt sie die Statuette triumphierend in die Luft, muss gleich darauf aber so sehr weinen, dass sie nicht mehr sprechen kann; die Jury-Mitglieder, allen voran Audrey Tautou, versuchen das Kind zu trösten.
Dass die Jury den Goldenen Bären an „Taxi“ vergeben hat, bildet einen schönen Abschluss für die diesjährige Berlinale. Und das längst nicht nur, weil Panahi den Mut hat, sich über Vorgaben und Einschränkungen hinwegzusetzen. Wer in der Auszeichnung nur ein politisches Signal sieht, mit dem westliche Liberale es dem Regime in Teheran aber mal so richtig zeigen, ist nicht nur naiv, er übersieht auch die spezifische Qualität des Films. Dem gelingt es, die Beschränkungen, unter denen er entsteht, zu seinem Vorteil zu wenden, indem er sie reflektiert und das Kino und das Filmemachen gleich mit.
Das macht aus Panahis jüngster Arbeit (zwei andere, „In film nist“ und „Pardé“, sind trotz des Urteils schon entstanden) eine Momentaufnahme aus dem heutigen Teheran und zugleich eine Metafiktion. Die Anklage unhaltbarer Zustände – etwa die Gefahr, in die sich eine Anwältin begibt, sobald sie Menschenrechtsaktivisten verteidigt – findet ebenso Platz in „Taxi“ wie die Liebe zum Kino. Einer der Fahrgäste zum Beispiel ist ein fliegender Händler von DVDs. Im Angebot hat er „Midnight in Paris“ von Woody Allen, „Once Upon a Time in Anatolia“ von Nuri Bilge Ceylan oder „Der Tod des Herrn Lazarescu“ von Cristi Puiu. Diese schwarz gebrannten DVDs sind wie Wurmlöcher, durch die man sich aus der Enge eines Teheraner Taxis auf andere Ebenen katapultieren lassen kann.
Pfade zwischen Filmen
Interessant an „Taxi“ ist außerdem, wie Panahis Film mit einer Reihe anderer, über die Sektionen verstreuter Filme in den Dialog tritt. Nicht, dass sich die Berlinale mit ihren 441 Filmen auf einen Nenner bringen ließe. Das Festival häuft zu viel von allem Möglichen an, als dass sich eine von den Auswahlkomitees geschlagene Schneise ausmachen ließe. Man schlägt sich die Schneisen also selber, und mein Lieblingspfad bestand aus Filmen, die vom Filmemachen selbst handeln oder existierende Filme fortschreiben, sie zitieren, aufgreifen, würdigen. Und dabei an Grenzen stoßen: Vincent Dieutres „Viaggio nella dopo-storia“ etwa verneigt sich vor Roberto Rossellinis „Viaggio in Italia“ aus dem Jahr 1954.
Der französische Essayfilmer muss zunächst einen Anwalt aufsuchen, um in Erfahrung zu bringen, unter welchen Umständen und mit welchem Material er diese Verneigung unternehmen darf. Ist es zum Beispiel erlaubt, wenn die Rollen des mit sich selbst hadernden Ehepaars, das im Original von Ingrid Bergman und George Sanders gespielt wird, an ein Männerpaar gehen? Zu Dieutres Glück ist Isabella Rossellini, die Rechteinhaberin, offen und freigiebig, sie stört sich nicht an dem Vorhaben und auch nicht an der großzügigen Verwendung schlieriger Youtube-Szenen aus dem Original.
Merkwürdig, wie die Bilder auf der einen Seite omnipräsent, auf der anderen Seite aber nur unter ganz bestimmten Bedingungen verfügbar sind. In „Jia Zhang-ke, um homem de Fenyang“, Walter Salles' Hommage an den chinesischen Filmemacher, gibt es einen tollen Augenblick, in dem Jia Zhang-ke sich daran erinnert, wie sehr er sich freute, als ihm zum ersten Mal ein DVD-Händler eine Raubkopie eines seiner Filme verkaufen wollte. Jia Zhang-ke durfte seine frühen Arbeiten nicht in Kinos zeigen; auch sein jüngster Film, „A Touch of Sin“, wurde vom Pekinger Filmbüro nicht für die öffentliche Vorführung freigegeben, obwohl er mittlerweile ein international renommierter Regisseur ist.
Kamera in der Hosentasche
Wenn seine Filme raubkopiert werden, so ist dies für ihn Grund zur Freude. Denn es bedeutet, dass die Bilder zirkulieren, ob es dem Filmbüro nun gefällt oder nicht. Das liegt selbstredend auch daran, dass das Kino nicht mehr an teure Aufnahmetechniken und schwere Vorführapparate gebunden ist, sondern sich davon, zu seinem Nutzen (größere Verfügbarkeit) wie zu seinem Schaden (die immer wieder frappierende Hässlichkeit digitalen Videos, kombiniert mit der fehleranfälligen digitalen Vorführtechnik), emanzipiert hat. Womit man wieder bei Panahis Film ist, in dem nicht nur die Nichte mit einer Digitalkamera hantiert, sondern auch viele andere Figuren das Smartphone zücken, um Bilder zu machen. Wie lässt sich ernsthaft das Filmemachen untersagen, solange jeder ein Aufnahmegerät in der Tasche trägt?
Eine der beindruckendsten Revisionen schon bestehenden Filmmaterials findet sich in „Balikbayan # 1 Memories of Overdevelopment Redux III“, einem wuchernden Film von Kidlat Tahimik. Der philippinische Regisseur hat vor mehr als 30 Jahren einen Film begonnen, in dem er die Weltumseglung Magellans aus der Sicht des philippinischen Sklaven, der den Kapitän zu begleiten hatte, nacherzählt. Enrique de Malacca, so der Name des Mannes, wurde seinerzeit von Tahimik gespielt.
Ganz am Anfang werden Filmspulen aus Schlamm herausgebuddelt, und von diesem Moment an geht es rund. Rund um den Globus, quer durch den philippinischen Archipel, munter durch die Zeit und durch die Medien; Tahimik kombiniert das Schmalfilmmaterial aus den 80er Jahren mit analogem und digitalem Video und hat zugleich eine Riesenfreude an anderen Medien, etwa an der Kunst von Steinmetzen und an der Holzschnitzerei.
Dabei geht es ihm um eine Umdeutung kolonialer Geschichtsschreibung: Wer sorgt dafür, dass Magellans Galeone sich nicht in den Fjorden Feuerlands verirrt? Wer verführt die Infantin Isabella und macht damit das ganze Unternehmen erst möglich? Wer überlebt Magellan und wird dadurch zum ersten Menschen, der die Welt umrundete? Enrique de Malacca, wer sonst. Das Schöne daran ist, dass sich der antikoloniale Impuls des Films niemals ideologisch verhärtet, sondern schalkhaft und listenreich bleibt.
Monströs durch Betrachtung
Listenreich ist schließlich auch Antoine Barrauds „Le dos rouge“, in dem ein Filmemacher, den der französische Regisseur Bertrand Bonello spielt, Museen besucht, weil er für seinen nächsten Film ein Gemälde benötigt, das eine Vorstellung vom Monströsen vermittelt. Das erschließt sich jedoch nicht auf den ersten Blick, es muss qua Diskurs erst freigelegt werden. Eine zunächst von Jeanne Balibar, dann von Géraldine Pailhas gespielte, exzentrische Kunsthistorikerin und Bonellos Figur stehen also vor Bildern und tauschen sich darüber aus, was sie sehen. Je häufiger sie dies tun, umso tiefer sinkt der Regisseur in eine Schaffenskrise. Hinzu kommt, dass sich auf seinem Rücken ein roter Ausschlag ausbreitet, ganz so, als würde er durch die Betrachtung des Monströsen selbst monströs.
Das ist bedrohlich, aber auch lustvoll; sich von Bildern affizieren zu lassen, setzt in „Le dos rouge" einen gewissen Mut voraus und auch eine Neugier auf das, was man weder begreifen noch einordnen kann. Sich diese Neugier und Offenheit zu bewahren, gerade in Zeiten, in denen Bilderverbote an jeder Ecke lauern, ist ein deutlich politischerer Akt, als es ein engagierter, eindeutiger Themenfilm je sein könnte.
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