Zum 21. Tag der Deutschen Einheit: Das ungelobte Land
21 Jahre Deutsche Einheit - Anlass für viele Deutsche, wieder über ihr Land zu meckern. Doch nach fünf Jahren im Ausland muss ich sagen: Es lebt sich gut in Deutschland.
Als wir nach fünf Jahren Paris wieder nach Berlin zurückzogen, war das ein herber kulinarischer und ästhetischer Rückschlag. Baguette, Wein und Käse sind an der Seine selbstverständlich deutlich besser. Und ein Blick auf das morgendliche Metropublikum im dezenten Chic kontrastiert doch sehr mit den tätowierten Bierflaschenschwenkern in der Berliner U-Bahn.
Aber dann komme ich nach Hause und trinke ein Glas Leitungswasser. Ohne Chlorgestank. Die Kinder fahren allein mit dem BVG-Bus zur Schule, die wir Eltern sogar betreten dürfen. Im Sportverein darf man einfach so mitmachen. Im Supermarkt stapeln sich Bioäpfel und Ökowaschmittel. Im Fernsehen werden Politiker von Journalistinnen interviewt, die nicht zu deren Freundeskreis gehören.
Fünf Jahre im Ausland, und ich merke: Es lebt sich gut in Deutschland. Umso befremdlicher ist das Meckern der Deutschen über sich selbst, quer durch die politischen Lager: Da schwärmen selbst Konservative über die New York Times - und vergessen, wie sich diese Zeitung im Irakkrieg blamiert hat; FDP und Wirtschaftskapitäne preisen den angelsächsischen Kapitalismus, der spätestens mit Lehman Brothers implodiert ist. Aber Weltniveau bei der Selbstgeißelung erreicht die Linke mit Slogans wie "Deutschland abschaffen", "Deutschland, halts Maul" oder Einkaufstaschen, auf denen steht: "Deutschland ist kotzescheiße" oder der These in einem taz-Text, es sei super, wenn sich Deutschland selbst abschaffe.
Meine Erfahrung ist da ganz anders. Je länger wir im Ausland waren, desto klarer wurde mir: Es muss nicht weh tun, Deutscher zu sein. Im Gegenteil: Unser Land ist weltoffen, reich, zivil, sicher, sozial, engagiert und selbstkritisch. Von außen betrachtet sind wir so, wie wir es uns von unseren Freunden wünschen. Ich bin nicht stolz, ein Deutscher zu sein - schließlich habe ich dafür nichts geleistet. Aber ich kenne ein paar kluge, gebildete Menschen im Ausland, die mich um meinen Pass beneiden.
Wir sind Weltmeister im Verreisen - aber an unseren positiven Vorurteilen über andere Länder ändert das nichts. Wer nach Frankreich fährt, genießt Strände und Speisekarte - dass er in einem zutiefst autoritätsfixierten Land Urlaub macht, wo Parlamente und Medien kaum Kontrollfunktionen ausüben und immer dieselbe Clique aus Eliteschülern Wirtschaft und Politik dominiert, ist ihm egal. Wer in die USA fährt, könnte über den blanken Hass zwischen den politischen und gesellschaftlichen Lagern erschrecken. In Großbritannien dürfte sich ein Tourist darüber Gedanken machen, wie das Mutterland der Demokratie gegen den erklärten Willen der Mehrheit in den Irakkrieg gehetzt wurde.
Lob auf deutsche Toleranz und Sozialstaat
ist Redakteur im Ressort Wirtschaft & Umwelt der taz. Er studierte Politologie und Amerikanistik in Berlin und Bloomington, Indiana. Recherchen zum Thema Klima führten ihn unter anderem nach Brasilien, Bangladesch und Belgien. Von 2005 bis 2010 lebte er mit seiner Familie in Paris.
Wer mit offenen Augen durch Osteuropa fährt, könnte mit einem Lob auf deutsche Toleranz und Sozialstaat zurückkommen. Und in Italien und Russland wundert einen inzwischen ja gar nichts mehr. Selbst Skandinavien und Benelux, bisher ganz oben auf der liberalen Achse der Guten, bringen uns durch populäre Islamhasser und Fremdenfeinde ins Grübeln. Ein Blick in die Realitysoaps über deutsche Auswanderer zwischen Austria und Australien zeigt: Um eine bessere zweite Heimat zu finden, muss man ganz schön suchen.
Selbstverständlich hat auch unser Land seine Abgründe: Die Schere zwischen Arm und Reich geht auseinander; der Zugang zu Bildung hängt davon ab, was Papa verdient; ganze Landstriche werden von der NPD übernommen; unser Umgang mit Flüchtlingen und Zuwanderern ist manchmal beschämend, unser globaler Fußabdruck eine Katastrophe; und dass Günther Jauch als klügster Deutscher gilt, ist auch nicht schön.
Aber: Dieses Land funktioniert. Es garantiert uns ein Dasein, das im internationalen Vergleich luxuriös ist. Auch Kassenpatienten schlafen in der Regel nicht auf dem Krankenhausflur, wie es in den USA oder Großbritannien vorkommt. Wenn die Bahn sich verspätet, ist das ärgerlich, aber mit den spontanen Streiks der Pariser U-Bahn-Schaffner genauso wenig zu vergleichen wie mit dem Verkehrschaos in Mexiko-Stadt. Und wenn sich Bürger über den Abriss eines Bahnhofs empören, werden sie nicht massakriert, sondern tauschen bei nächster Gelegenheit bei freien und geheimen Wahlen die zuständige Regierung aus.
Deutschland hat sich von der Arschgeige der Staatengemeinschaft zum Nachhilfelehrer in Sachen Demokratisierung entwickelt. Unsere Großväter mordeten und ließen sich lieber erschießen, als Demokraten zu werden; unsere Mütter haben die 68er erst 98 verstanden. Aber heute sind wir deutschen Demokratie-Spätzünder zu einem Land geworden, das so oft auf der Seite der Guten steht, dass schon eine Enthaltung wie bei der Libyenresolution einen Aufschrei auslöst. Irgendwie gehen alle davon aus, dass Deutschland immer das Richtige mit den Richtigen tut. In der Eurokrise dürfen sich alle anderen Länder nationalen Eigensinn erlauben. Bei uns wird derartiges Verhalten von den Wählern mit 1,8 Prozent für die FDP abgestraft. Das ist doch schon mal was.
Auch sonst hat Schwarz-Rot-Gold eine Menge angenehmer Schattierungen: Deutschland ist reich, aber nicht geizig: Wir spenden hohe Millionenbeträge für Erdbebenopfer und Greenpeace, wir zahlen brav in alle UN-Töpfe. Deutschland ist ein ziviles Land, in dem das Militär gesellschaftlich kaum eine Rolle spielt - wie anders ist das in den USA, Frankreich oder Russland. Deutschland reflektiert so sehr über seine eigene Geschichte, dass praktisch auf jedem Gedenkstein ein hingespraytes "Denk mal!" steht und eine Sendung namens "Hurra Deutschland!" nur eine Satire sein kann.
"Deutschland, halts Maul!"
Deutschland ist so liberal, dass es von einer kinderlosen Frau in zweiter Ehe, einem Rollstuhlfahrer, einem bekennenden Schwulen und einem vietnamesischen Bootsflüchtling regiert wird. Deutschland ist so sicher, dass Berichte über "No-go-Areas" noch für Schlagzeilen sorgen. Deutschland ist so mutig, dass es gleichzeitig aus der Atomkraft und der Kohle aussteigen will, ohne zu wissen, woher der Strom kommen soll. Deutschland ist eine offene Gesellschaft mit Qualitätsmedien für die politische Hygiene, mit politischen Stiftungen und einer lebendigen Szene von Bürgerinitiativen und NGOs und mit einem breiten Konsens in Fragen wie Energiepolitik, Mindestlohn oder Militäreinsätzen.
Die Ätzkritik "Deutschland, halts Maul!" macht drei Fehler: Erstens ist sie national borniert und übersieht die Rolle, die unser Land weltweit spielt, wenn es um Verantwortung für internationalen Ausgleich und Fairness geht. Zweitens dreht sie den dummen Anspruch, man könne "stolz darauf sein, ein Deutscher zu sein", einfach nur ins Negative, wenn sie behauptet, deutsch sei doof. Und drittens bremst sie das Engagement, die Zustände in diesem Land zu verbessern. Wer alles nur scheiße findet, hätte die deutsche Beteiligung am Irakkrieg nicht verhindert und nie die Ökorevolution durch das "Erneuerbare-Energien-Gesetz" begonnen.
"Ich liebe nicht den Staat, ich liebe meine Frau", hat der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann gesagt. Ein wahrer Satz, für den der Präsident jedes anderen Landes wahrscheinlich seines Amtes enthoben worden wäre. Aber gerade diese Zurückhaltung, das Bewusstsein für unsere katastrophale nationale Geschichte, die Selbstzweifel und der Anspruch, es richtig zu machen, machen Deutschland lebens- und manchmal sogar lobenswert. Es muss ja nicht gleich Liebe sein. Kritische Sympathie zur Heimat reicht völlig aus.
Mein Vorschlag: Ein "Freiwilliges Ausländisches Jahr" für alle. Danach würde die Zufriedenheit mit dem Hier und Jetzt deutlich ansteigen. Ich jedenfalls würde sofort wieder aus Deutschland wegziehen. Aber nur mit Rückfahrkarte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen