Zuhause bleiben statt reisen: Guten Morgen, Limbach-Oberfrohna!
In der mobilen, fortschrittshungrigen und reiselustigen Generation gelten die Bleibenden als träge, vernagelt, öde. Das stimmt so nicht.
Die Zahl der Möglichkeiten, mit abweichendem Verhalten noch irgendwen zu verblüffen, geht heute gegen null; denn eine weitgehend tolerante, abgeklärte Gesellschaft kennt ihre Meinungen und Handlungsoptionen. Man schmunzelt vielleicht über Unübliches, ist bestürzt oder empört. Aber es überrascht, überrascht zu sein.
An einem Winterabend vor zwei Jahren hörte ich zum ersten Mal von einem nicht weiter auffälligen Gleichaltrigen, dass er nicht gern reisen würde. Die Worte standen dann da im Raum. Staunendes Schweigen in der Runde. Die Heimat – Hamburg, Deutschland, Mitteleuropa – fuhr er fort, sei vollkommen genügend.
Die Ferne mit all ihren Ungewissheiten, deren gezielte Entdeckung das Reisen bedeute, locke ihn nicht, nicht im Geringsten. Schwüle, Stress und aufgeregte Menschenmassen: dafür müsse er nicht fünfzehn Stunden in engen chinesischen Flugzeugen sitzen. Bald wurde das Thema gewechselt, niemand wusste so recht, was dazu zu sagen wäre.
Das Bekenntnis überrascht so, weil es unzeitgemäß ist, zu bleiben. In meiner flexiblen, mobilen, fortschrittshungrigen und reiselustigen Generation gelten die Bleibenden als träge, vernagelt, öde. Das gilt für Reiseverweigerer wie für Schulabsolventen, die in ihrem Heimatdorf, in ihrer mittelgroßen Heimatstadt bleiben wollen. Der Tenor: Bleiben ist schlecht für die Entwicklung. Bleibende mit ihren bleiernen Beinen sind unattraktive Gesprächsteilnehmer. Im Abseits steht, wer von der Schönheit des Wendlands spricht, wenn von Nicaragua die Rede ist.
Ständig fotografieren wir alles und jeden. Den Eiffelturm am Abend, die Freundin in der Seilbahn, die Kinder in der Sandkiste. Und merken nicht, wie uns die Welt hinter all den Bildern abhanden kommt. Arno Franks Geschichte über einen Akt der Selbsterhaltung lesen Sie in der taz.am wochenende vom 16./17. August 2014. Außerdem: Wie der Kokainhandel in Amerika funktioniert. Und: Warum der Schriftsteller Ferdinand von Schirach die Ehe für mörderisch hält. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Unter grauem Himmel
Man stellt sich den Bleibenden vor, wie er gelangweilt unter grauem Himmel am Fluss hockt, wo man schon die ganze Kindheit und Jugend mit ihm saß, oder, wahrscheinlicher noch, blass im Lichtschein der Spielkonsole, eine halbleere Fantaflasche auf dem staubbelegten Sofatisch. Und spätestens bei der Vorstellung ertappt man sich bei seinen kosmopolitischen Überlegenheitsgefühlen.
So stellt man sich das Bleiben als mentalen und sozialen Stillstand vor, als mobile Impotenz. Als Gefahr: zu verkalken, zu resignieren, bräsig zu werden und sich der Langeweile zu ergeben.
Doch neugierig auf die Welt kann auch sein, wer nicht in den Flieger steigt. „Es ist so süß zu bleiben“, bekennt etwa der junge Simon Tanner in Robert Walsers Roman „Geschwister Tanner“ und fragt: „Geht denn die Natur etwa ins Ausland? Wandern Bäume, um sich anderswo grünere Blätter anzuschaffen und dann heimzukommen und sich prahlend zu zeigen?“
In der Region wandern
Rastlos ist dieser Simon, mit Anfang zwanzig der Jüngste unter fünf Geschwistern. Seine Anstellungen in Buchhandlungen, Banken und bei wohlhabenden Damen pflegt er stets nach wenigen Tagen zu kündigen, wenn er sich in der Enge der industrialisierten Arbeitswelt nach Natur und Müßiggang sehnt. Deren Pracht schildert er in ausschweifender Euphorie. Auch er wandert, aber er bleibt in der nächsten Umgebung.
In den Erzählungen der von Reisen Heimgekehrten liegt gerade da der Glanz, wo sie mit ihren Beschreibungen an Grenzen stoßen, wo sie Begegnungen oder Naturerlebnisse kaum in Worte zu kleiden vermögen. Oft genug hört man aber Allzubekanntes. Durch die globale Infrastruktur und weithin bezahlbare Langstreckenflüge kartografiert eine Generation die Welt, die von einschlägigen Reiseführern und von Reiseblogs vorgezeichnet ist.
Man sammelt Eindrücke, die man von Bildern kennt, folklorisierte Stimmungen, die man gemeinhin erwartet, man entdeckt nichts eigentlich Neues: Ei, diese tollen Lichtreflexe auf dem Wasserbecken vorm Taj Mahal – wie auf den Fotos! Unsere sehr konkreten Vorstellungen von der Ferne können enttäuschend sein. Diejenigen, für die Reisen nicht nur ein Zustand, sondern eine Idee, ja eine Haltung ist, wollen deshalb jenseits der bekannten Bilder und Erzählungen herumwandern, um Unbekanntes aufzuspüren.
Dort hängen Lampions
Walsers Träumer Simon Tanner findet auch in der Nähe Fantastisches: „Die Blätter an den hohen Bäumen werden immer größer, in der Nacht lispeln sie, und am Tage schlafen sie unter dem heißen Sonnenschein.“
Vielleicht liegt das Unbekannte nur eine halbe Stunde Fahrt entfernt.
In der Provinz, wo man Menschen trifft, wie man sie kaum kennt, mit eigentümlichen Ritualen, fremden Gesichtern und Dialekten. Guten Morgen, Limbach-Oberfrohna! Wer sich der scheinbaren Ödnis des Kleinstadtsommers hinzugeben wagt, wie es Moritz von Uslar in Brandenburg für sein Buch „Deutschboden“ getan hat, weiß eventuell zu Herbstbeginn mehr Neues zu erzählen, als diejenigen, die drei Wochen in Südostasien gewesen sind.
Für die Identität und Zukunft ihrer Heimat sind Bleibende – und Zurückkommende – unverzichtbar. Wer bleibt, glaubt an sein Zuhause, glaubt daran, etwas ändern oder erhalten zu können. Darauf weist auch der standhafte, entschlossene Klang des „Bleibens“ in der Demonstrationskultur hin: Da sind die Stuttgarter Bahnhofsgegner, die „oben bleiben“ wollten, statt den aufwändigen unterirdischen Neubau mitzufinanzieren; die Hausbesetzer, die oft bis zuletzt auf ihr „Drinbleiben“ pochten, ehe sie gingen oder gegangen wurden; oder die jugendlichen Leipziger Demonstranten im Herbst 1989, die mit ihrem „Wir bleiben hier“ überraschten. Ein Gegenentwurf zur Ausreisestimmung – sie hofften, in der maroden DDR durch ihren Widerstand etwas verändern und verbessern zu können.
In den darbenden Städten des Ruhrpotts und des Ostens sind die Bleibenden heute gefordert, die Ruinen und die Langeweile mit Leben zu füllen. Ihren Städten die ramponierten Visagen zu hübschen; Oberhausen, Magdeburg, Duisburg oder Rostock auch für andere bleibenswert zu gestalten, wo die Politik hilflos ist.
Wer bleibt, ist mutig
Man kann sich diese Bleibenden am Fluss vorstellen, an dem man mit ihnen die ganze Kindheit und Jugend schon saß. Allerdings hocken sie dort nicht, sondern hängen Lampions und Scheinwerfer in die Bäume, zimmern Bühnen und Hütten. Und das ist auch eine Realität: der Verein „Kulturpauke“ zum Beispiel, gegründet von Magdeburger Idealisten, die seit Jahren magische Musikfestivals am Elbstrand organisieren. Diese Bleibenden stellen sich den Umständen, die den andern oft ein Grund sind, zu gehen, um nicht zu sagen: zu flüchten. Wer bleibt, ist mutig. Die Bedingungen für Selbsterkenntnis, Reifung, Menschwerdung sind für die Bleibenden wie für die Reisenden mindestens ebenbürtig.
In der so anderen und doch bedeutungsschweren Welt des Fußballs verursachen die Flüchtigen tiefe Schmerzen. Spieler, die seit ihrer Jugend im Verein spielen und dann, trotz aller Liebesbekundungen, plötzlich gehen. Ihr Weggang wird verstanden als Aufgabe einer Heimat, an die man den rechten Glauben verloren hat.
Spieler wie der Römer Francesco Totti oder Steven Gerrard in Liverpool werden deshalb verehrt, weil sie ihre Heimatvereine nie verlassen, nie im Stich gelassen haben. Sie sind Helden der Heimat.
Bleiben heißt immer auch Verzicht. Es gibt unzählige Optionen, und aus all diesen wählt man genau diese mal warme, mal bittere, mal süße und mal beknackte. Diese vertraute, in der sich noch so viel Unbekanntes verbirgt.
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