Zu wenig Plätze in Unterkünften: Geflüchtete sollen in Parks zelten
Hamburg reaktiviert ein Gesetz von 2015, das die Beschlagnahme von Immobilien ermöglicht. Die Sozialbehörde schwört die Bezirke auf Notlage ein.
![ein Mann mit Regenschirm geht an ei ner Reihe weißer Zelte vorbei ein Mann mit Regenschirm geht an ei ner Reihe weißer Zelte vorbei](https://taz.de/picture/6910844/14/60321100-1.jpeg)
Rechtsgrundlage ist das Hamburgische Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOG), wo es in Paragraf 14a vage heißt, „Sachen“ dürften „sichergestellt“ werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung erforderlich ist. Erstmals eingeführt hatte die Stadt diese Regelung im Flüchtlingssommer 2015, nach zwei Jahren war sie ausgelaufen, ohne dass sie zur Anwendung gekommen wäre. Auch nun soll sie wieder auf zwei Jahre befristet werden.
Schon am Vortag hatte Sozialstaatsrätin Petra Lotzkat sich in einem Schreiben an die sieben Bezirksversammlungen gewandt, die Hamburger Kommunalparlamente, wie das Hamburger Abendblatt zuerst berichtete. Darin hatte sie praktisch den Notstand bei der Unterbringung von Geflüchteten erklärt. Bislang habe man den Unterbringungsbedarf „durch die Anmietung von Hotels und Hostels, den Umbau ehemaliger Gewerbeobjekte, die Errichtung weiterer Interimsstandorte und verschiedene Notstandorte“ aufgefangen. Das werde aber immer schwieriger.
Denn im laufenden Jahr müssten vertraglich bedingt bestehende Unterkünfte mit einem Volumen von 3.200 Wohnplätzen schließen, 870 davon schon bis Mitte April. Die mittlere Prognose der Behörde zum Fluchtgeschehen erfordere außerdem 3.000 zusätzliche Plätze bis Jahresende. Insgesamt muss Hamburg also über 6.000 neue Plätze schaffen – wenn die weltweiten Fluchtursachen sich nicht weiter verschärfen.
Sozialstaatsrätin Petra Lotzkat
Die vorhandenen Unterkünfte seien zu 98 Prozent ausgelastet, schreibt Lotzkat. Insgesamt sei die Zahl der Menschen in öffentlicher Unterbringung, neben Geflüchteten etwa auch Wohnungslose, von 29.000 im Jahr 2020 um 65 Prozent auf 47.300 gestiegen – das sind so viele wie noch nie. Größter Faktor bei diesem Anstieg sind Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.
Nun will die Sozialbehörde auch wieder verstärkt auf die Unterbringung in Zelten setzen. Und zwar nicht nur an existierenden Unterkünften, wo die Zeltbewohner:innen zumindest die Sanitäranlagen mitnutzen könnten. Lotzkat bereitet die Bezirke auf das Schlimmste vor: Es müsse „in Betracht gezogen werden, öffentliche Parks und Festplätze für die Unterbringung zu nutzen“. Auf die bestehende Belastung von Stadtteilen könne „aktuell weitestgehend keine Rücksicht genommen werden“, so Lotzka „jede in Betracht kommende Fläche und Immobilie“ müsse genutzt werden.
Einen „Würgegriff“ wenige Monate vor den Bezirkswahlen nannte die Altonaer FDP-Fraktionschefin Katharina Blume es, „wenn die Sozialbehörde kommuniziert, dass Widerstand zwecklos ist“. Der Chef der CDU-Bürgerschaftsfraktion Dennis Thering sprach von einer „Bankrotterklärung“ des Senats. Statt lokale Lösungen anzubieten, beklagte er einmal mehr, dass Bund und Länder keine wirksamen Maßnahmen ergriffen hätten, den „Flüchtlingszustrom“ nach Deutschland und Hamburg zu „begrenzen“.
Kritik an „Alarmismus“ und „Dramatisierung“
Die Linke-Bürgerschaftsfraktion hatte schon vor über einem Jahr die Beschlagnahme vor allem von leer stehenden Gewerbeimmobilien zur Unterbringung Geflüchteter gefordert. Aktuell kritisiert die fluchtpolitische Sprecherin Carola Ensslen „alarmistische“ Aussagen der Sozialbehörde, die den Eindruck erweckten „als sei unsere Naherholung in Gefahr“. Damit würden Geflüchtete zu Sündenböcken für eine Situation, „für die sie nichts können“.
„Überrascht“, zeigt sich auch Manfred Ossenbeck vom Bündnis Hamburger Flüchtlingsinitiativen, „dass das so dramatisiert worden ist – dabei sind die Ankunftszahlen seit November beständig rückläufig“. Offenbar mache sich derzeit vor allem bemerkbar, dass Mietverträge mit Hotels ausliefen, die im Sommer wieder für reguläre Gäste öffnen wollten.
„Das System ist grundsätzlich verstopft“, sagt Ossenbeck. Die Leute kämen aus den Erstaufnahmeeinrichtungen nicht raus, weil sie auf dem Wohnungsmarkt nichts fänden. „Es muss wieder mehr gebaut werden“, fordert er. Das Programm „Unterkunft mit Perspektive Wohnen“, mit dem 28.000 Sozialwohnungen für Geflüchtete geschaffen werden sollten, habe nur 5.000 Wohnungen gebracht. Dann habe die Stadt es auslaufen lassen, jahrelang sei nichts passiert. Erst 2023 wurde es unter dem Titel „In Zukunft wohnen“ wieder aufgenommen.
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