: Zu viele Zettelkästen
Ein Jahr nach der Nato-Intervention erscheinen unzählige neue Bücher zum Kosovo. Empfehlenswert ist vor allem der Band von Matthias Rüb
Ein Zettelkasten, nicht mehr, ist das der aktuelle Politreader? Beim Thema „Kosovo – Ursachen und Folgen eines Krieges in Europa“ fühlt sich jeder Buchliebhaber strafversetzt in die Archivablage einer besseren Tageszeitung. Gleich drei Autoren, ein Diplomat, ein Journalist und ein Ex-Parteiberater der Grünen, verschrieben sich in jüngster Zeit dem Thema.
Da dachte sich etwa Wolfgang Petritsch, einst Österreichs Botschafter in Belgrad, er könne mal schnell als Zeitzeuge niederkritzeln, wie es überhaupt zum annus horribilis kommen konnte. Weit schweifen Petritsch und seine beiden Mitautoren, die Historiker Karl Kaser und Robert Pichler, in die Geschichte ab, um vom frühen Mittelalter bis zu den Vertreibungen im vergangenen Jahrzehnt eine historische Abhandlung über Rassenwahn und Völkerhass auf dem Balkan zu spannen. Der Band quillt über von Fakten, Originaltexten und Quellenauszügen, und selbst der Vertrag von Rambouillet ist den Buchmachern 43 Seiten wert – im englischen Original. Da fragt sich der Leser dann schon: Habe ich überhaupt ein Lesebuch vor mir oder eher ein Nachschlagewerk. Überhaupt wird mit englischen Textauszügen umgesprungen, als wäre jeder Leser mit dieser Sprache zutiefst vertraut.
Petritsch wiederum, zweisprachig aufgewachsen unweit der Grenze zum damaligen Jugoslawien, versäumt es, persönliche Erlebnisse und Erfahrungen niederzuschreiben, was dem Buch manche Pointe gegeben hätte. Stattdessen zieht er sich auf die Rolle des Diplomaten zurück, des Mitverhandlers bei den Gesprächen von Rambouillet, der Interna preisgeben darf.
Einen ganz anderen Ansatz verfolgt Matthias Rüb, der Mann von der FAZ auf dem Balkan. Er erzählt einfach. Der Leser spürt, hier wird in einer guten Mischung das Selbsterlebte mit politischer Analyse verbunden. Locker ist der Stil und dennoch faktenreich. Rüb entpuppt sich als Erzähler, der mehr kann, als nur tagesaktuelle Zeitungsnotizen aufs Papier zu bringen. Schwach ausgefallen sind einzig die ersten beiden Kapitel im Buch, in denen der Autor die Geschichte von der Frühzeit bis zum Aufstieg des Serbenherrschers Slobodan Milošević Revue passieren lässt.
Der Argumentation und Faktenfolge merkt man an: Rüb kennt den Balkan persönlich erst seit 1994, als er von Frankfurt nach Budapest umsiedelte. Den Alltag im titoistischen Jugoslawien hat er nie selbst erlebt, aber nachträglich auch nicht ausreichend reflektiert. So schreibt er ab, was in unzähligen Balkan-Büchern über den serbischen Nationalismus in diesem Jahrhundert steht – etwa die Geschichte des Vaso Cubrilović, einem der Attentäter von Sarajevo 1914. Der verfasste in den 30er-Jahren ein faschistoides Memorandum über die Albaner-Frage und forderte eine „homogene Serbisierung“ der mehrheitlich albanischen Siedlungsgebiete Jugoslawiens.
Nur das Wichtigste vergisst Rüb – wie übrigens auch Petritsch – nachzurecherchieren: Cubrilović starb erst 1990 im Alter von 92 Jahren in Belgrad, wo er bis zu seinem Tod politisch wirkte. Er war zeitweilig Abgeordneter, Minister, Hochschullehrer und einer der begehrtesten Gastredner bei historischen Symposien der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste – die serbischen Kommunisten paktierten in der Albanerfrage über Jahrzehnte mit der extremen Rechten. So nimmt es nicht wunder, dass ein Milošević nach Ende des Titoismus 1987 zum Volkstribun aufsteigen konnte – hatte er doch die gesamte politsche Elite auf seiner Seite. Und Cubrilović als persönlichen Berater.
Kein Wort über diese Problematik verliert auch Matthias Küntzel in seiner Analyse „Deutschlands Weg in den Krieg“. Er fragt nicht, was die albanische Bevölkerung noch alles hätte durchmachen müssen, hätte der Westen das Milošević-Regime im vorigen Jahr im Kosovo nicht militärisch besiegt. Denn der ehemalige Berater der Grünen-Bundestagsfraktion hat die Antwort schon parat: Einige Staaten Westeuropas, allen voran Deutschland und Österreich, waren seit der Wiedervereinigung darauf aus, den titoistischen Vielvölkerstaat „in seine ethnischen Teile zu zerlegen“, um „die Region des ehemaligen Großalbanien als traditionelles deutsches Einflussgebiet erneut zu dominieren“. Schade um diese Sätze, denn an einigen Stellen ist die Analyse scharf und die Kritik am Nato-Luftschlag sorgfältig ausgearbeitet. So verkommt die Abrechnung mit dem Luftkrieg der Nato zu einem links-dogmatischen Politreader und ideologischen Manifest. MIRSAD TILIĆ
Wolfgang Petritsch, Karl Kaser, Robert Pichler: „Kosovo/Kosova“, Wieser Verlag, 2000, Klagenfurt, 411 S., 47 DM „Der Weg in den Krieg – Deutschland, die Nato und das Kosovo“, Elefanten Press, Berlin, 2000, 256 S., 34,90 DM Matthias Rüb: „Kosovo. Ursachen und Folgen eines Krieges in Europa“, dtv, München 1999, 192 S., 14,90 DM
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