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Der Educational Bookshop in Ost-Jerusalem ist ein Ort des Dialogs. Hier kaufen Diplomaten, Politiker und Aktivisten ihre Bücher Foto: Felix Wellisch

Zivilgesellschaft in IsraelZwischen allen Fronten zerrieben

Noch ist die israelische Zivilgesellschaft lebendig und vielfältig. Doch Aktivisten geraten zunehmend in die Schusslinie der rechtsreligiösen Regierung.

Felix Wellisch
Von Felix Wellisch aus Westjordanland und Jerusalem

A mir Ziv hatte das Gefühl, als Soldat das Richtige zu tun, obwohl er schon damals Gegner der israelischen Besatzung war. Als er nach der Schule zur Armee eingezogen wurde, habe er gedacht, er könne den Palästinensern, den israelischen Siedlern und seinen Kameraden zeigen, dass es einen guten Weg gebe. „In Hebron hat diese Überzeugung drei Tage gehalten“, sagt Ziv, während er im schwarzen Kapuzenpulli in einem Bus der Organisation Breaking the Silence (BtS) steht. Der 36-jährige Ex-Soldat und Religionslehrer ist an einem Freitag Ende Februar mit rund 20 Teilnehmern von Tel Aviv ins israelisch besetzte Westjordanland unterwegs.

Ziv erzählt seine Geschichte jetzt seit 13 Jahren. Wie er aufgewachsen sei mit der Überzeugung, dass Israel Frieden wolle, aber keinen Gesprächspartner auf der anderen Seite habe. Wie er Freunde bei palästinensischen Terroranschlägen verloren habe. Und wie sein daraus entstandenes Weltbild an seinem Armeedienst als Besatzungssoldat zerbrochen sei.

Zivs Geschichte erzählt von Menschlichkeit und Mitgefühl, von universellen Rechten in einer Zeit, in der nach dem Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober 2023 und nach 18 Monaten erbarmungslosen Angriffen auf Gaza der Hass auf beiden Seiten unversöhnlicher als je zuvor scheint. Doch er könnte bald seine letzte Tour nach Hebron leiten. Denn die rechtsreligiöse Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu schießt sich zunehmend auf zivilgesellschaftliche Organisationen ein.

Die Teilnehmer von Zivs Tour kommen aus der Schweiz, aus Spanien, aus Dänemark. Ungefähr die Hälfte von ihnen sind Israelis. Auch unter ihnen hören die meisten zum ersten Mal aus erster Hand von der Realität in Hebron, das seit Jahrzehnten ein Brennpunkt der Besatzung ist. Sie erfahren etwa, dass im Zentrum der zweitgrößten palästinensischen Stadt im Westjordanland rund 800 radikale Siedler inmitten von mehr als 200.000 Palästinensern leben.

Spricht seit 13 Jahren über das, was er als Soldat erlebt hat: Amir Ziv bei einer „Breaking the Silence“- Tour nach Hebron

Auf einer Karte zeigt Ziv das Stadtzentrum, das von oben bis unten von rot und orange gefärbten Straßen durchzogen ist. Palästinenser dürfen sich auf ihnen nur eingeschränkt bewegen. Rund um die Uhr werden die Siedlungen von mindestens 650 Soldaten geschützt. „Am 7. Oktober 2023 waren mehr Truppen in Hebron als entlang der Grenze zum Gazastreifen“, sagt Ziv.

„Breaking the Silence“ bedeutet übersetzt „Das Schweigen brechen“: Soldaten sprechen öffentlich über das, was sie im Dienst erlebt haben. Die Organisation ist nicht nur eine der etabliertesten besatzungskritischen Stimmen in Israel, sie liefert auch belastbare Informationen. Mittlerweile hat sie rund 1.400 Soldaten-Aussagen gesammelt, jede von ihnen wurde vor Veröffentlichung von der israelischen Militärzensur freigegeben. Manche Berichte über das Vorgehen der Armee in Gaza wären ohne die Aktivisten kaum möglich gewesen, etwa über den israelischen Einsatz von Palästinensern als menschliche Schutzschilde oder deren Misshandlung in israelischen Gefangenenlagern.

Anhängern der politischen Rechten und der Siedlerbewegung gelten die Aktivisten seit jeher als Verräter und Nestbeschmutzer. „Manchmal bedrohen uns Siedler während der Touren“, warnt Ziv. Eine Webseite der rechten Gruppe Im Tirzu hat Steckbriefe zahlreicher Aktivisten veröffentlicht, darunter mehrere von Breaking the Silence.

Seit dem Terrorüberfall der Hamas kritisieren aber auch viele liberale Israelis, BtS und andere NGOs würden vor dem Hintergrund des zunehmenden Antisemitismus dem Ansehen des jüdischen Staates schaden. Teile der internationalen Linken hingegen finden in ihrer Solidarität mit Palästinensern keinen Raum für israelische Opfer, sprechen gar beim 7. Oktober von Widerstand oder leugnen Gräueltaten wie die dokumentierten Fälle sexualisierter Gewalt gegen israelische Frauen. Die Extremisten in der Regierung haben darin eine Chance erkannt, die zwischen allen Fronten zerriebenen unbequemen Stimmen im eigenen Land auszuschalten. Aber noch ist die israelische Zivilgesellschaft vielfältig und lebendig.

Noch nie war die Zukunft der Menschenrechtsarbeit in Israel so bedroht wie jetzt

Yehuda Shaul, Menschenrechtsaktivist

Manche Organisationen wie die Vereinigung für Bürgerrechte (ACRI) oder Schalom Achschaw (Frieden Jetzt) arbeiten seit rund 50 Jahren. Die Graswurzelbewegung für jüdisch-palästinensische Verständigung Standing Together (Zusammenstehen) wurde erst 2015 gegründet. In ihrer Geschichte habe sie viel Gegenwind erfahren, sagt der bekannte Menschenrechtler Yehuda Shaul in einem Café in Jerusalem nahe der Knesset, dem israelischen Parlament. Der Mann mit dem graumelierten Vollbart und der schmalen Brille hat 2004 BtS mitbegründet. Er ist sich sicher: Noch nie war die Zukunft der Menschenrechtsarbeit in Israel so bedroht wie jetzt.

Der Tag des Amtsantritts von Donald Trump sei entscheidend gewesen, sagt Shaul. Den 20. Januar nennt er deshalb den „neuen Unabhängigkeitstag der israelischen Rechten“. Seither würden Vorhaben mit einer Geschwindigkeit in Bewegung gesetzt, dass kaum noch jemand den Überblick behalte: Der lange angestrebte Justizumbau, die versuchte Absetzung der Generalstaatsanwältin und des Chefs des Inlandsgeheimdienstes, eine Kampagne gegen die israelische Presselandschaft, zählt Shaul auf. Selbst wenn manche der Gesetzesvorschläge aberwitzig klängen: „Dieser Bull­shit-Sturm hat Strategie“, sagt er. „Sie werfen 100 extreme Vorhaben in den Ring, ein paar kommen durch.“

Hunderttausende Israels hatten seit zwei Jahren gegen die sogenannte Justizreform protestiert. Ende März wurde ein Kernaspekt davon durchgewunken. Sie gibt der Regierung mehr Einfluss auf die Auswahl der obersten Richter. Die Gewaltenteilung, die in Israel vor allem durch den Obersten Gerichtshof gewährleistet wird, dürfte dadurch deutlich geschwächt werden.

Die Arbeit israelischer Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen wird vor allem durch zwei Gesetzesvorschläge bedroht: das NGO-Gesetz und das IStGH-Gesetz. Ersteres sieht eine 80-prozentige Steuer auf Fördergelder von ausländischen Staaten vor. Laut dem Vorschlag des Abgeordneten Ariel Kallner von der Regierungspartei Likud sollen Organisationen mit mehr als 50 Prozent internationaler Förderung kein Petitionsrecht mehr vor israelischen Gerichten haben. Viele der bekanntesten israelischen Menschenrechtsorganisationen beziehen einen Großteil ihrer Förderung aus Töpfen ausländischer Regierungen: B’Tselem, Peace Now, Breaking the Silence.

Das Finanzministerium kann Gruppen jedoch von den Vorschriften befreien. „De facto erhält die Regierung damit die Kontrolle über die NGO-Landschaft“, fasst Shaul zusammen. Im Mai 2023 war ein ähnlicher Vorschlag noch durch diplomatischen Druck aus den USA und Europa verhindert worden. Diesmal ist zumindest aus Washington kein Gegenwind zu erwarten. Die europäischen Partner müssten Netanjahu zeigen, dass sein Vorgehen gegen die Zivilgesellschaft einen Preis haben wird, wünscht sich Shaul. Ohne Druck von außen sieht er wenig Chancen auf Veränderung.

Zuletzt hatte das Auswärtige Amt den seit vielen Jahren aus Deutschland geförderten Organisationen Zochrot und New Profile Anfang Januar die „außenpolitische Unbedenklichkeit“ und damit deutsche Fördermittel abgesprochen. Zochrot, auf Hebräisch „Erinnerung“, setzt sich für eine Anerkennung der Nakba, der Vertreibung der Palästinenser im Zuge der Staatsgründung Israels und für deren Recht auf Rückkehr ein. New Profile unterstützt Kriegsdienstverweigerung.

Der zweite Gesetzesvorschlag soll die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof IStGH mit bis zu fünf Jahren Haft strafbar machen. Zusammen mit dem Dekret von US-Präsident Donald Trump gegen den IStGH verbreiten diese Maßnahmen schon jetzt ein Klima der Angst in der israelischen NGO-Szene. Trump hatte am 6. Februar harte Sanktionen für jeden angeordnet, der sich an Ermittlungen des IStGH gegen Personen ohne Zustimmung von deren Heimatstaaten beteiligt. Anlass war ein internationaler Haftbefehl gegen Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Joav Gallant wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gazakrieg.

Auch wenn bisher unklar ist, ob und in welcher Form das IStGH-Gesetz durchkommt und welche Konsequenzen die US-Sanktionen haben werden: Keine von mehreren angefragten israelischen NGOs will sich dazu äußern. „Wir setzen unsere Arbeit fort, aber die persönlichen Konsequenzen für unsere Mitarbeiter nicht abschätzen zu können, stellt uns vor eine große Herausforderung“, sagt ein Sprecher mit der Bitte, den Namen der Organisation nicht zu erwähnen.

Kommt das geplante Gesetz in seiner jetzigen Form durch, könnte es nicht nur unter Strafe gestellt werden, dem IStGH direkt zuzuarbeiten. Es könnte sogar strafbar sein, Inhalte zu veröffentlichen, auf die der Gerichtshof für seine Arbeit zugreift. Betroffen wären zahlreiche bekannte Organisationen, deren Publikationen wichtige Recherchearchive zur Menschenrechtslage bereitstellen, wie etwa B’Tselem oder Breaking the Silence. „Nicht zu wissen, für welche Veröffentlichungen wir künftig ins Gefängnis kommen könnten, würde unsere Arbeit extrem einschränken“, sagt Birte Brodkorb von der NGO PCATI (Public Committee Against Torture in Israel) am Telefon. Die Organisation prangert seit Jahren systematische Misshandlungen von Palästinensern in israelischer Gefangenschaft an.

In Israel herrsche bei diesem Thema de facto Straffreiheit. „Seit 2001 wurden rund 1.500 Fälle aus Verhören des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet angezeigt, mitunter mit glasklarer Beweislage. Es gab nur in drei Fällen Ermittlungen und keine einzige Anklage“, sagt Brodkorb. Seit dem 7. Oktober habe sich die Lage drastisch verschärft: „Wir haben kaum mit einem palästinensischen Sicherheitsgefangenen gesprochen, der seitdem nicht von Foltererfahrungen berichtet hat.“

Arbeitet seit 25 Jahren als Menschenrechtsanwalt: Oded Feller von ACRI beim Obersten Gerichtshof Israels Foto: Felix Wellisch

Wenige Hundert Meter von der Knesset entfernt liegt der Oberste Gerichtshof Israels, ein Justizpalast aus Glas und beigem Jerusalemer Sandstein. In der weiten Wartehalle vor den Gerichtssälen streift sich an einem Morgen Mitte März Rechtsanwalt Oded Feller die schwarze Gerichtsrobe über. „Der Gerichtshof ist aus der Arbeit vieler NGOs kaum wegzudenken“, sagt Feller, während er und seine Mitarbeiter von ACRI auf eine Anhörung zu Racial Profiling der israelischen Polizei warten. Diese Tatsache hätten auch rechte Aktivisten in den vergangenen Jahren verstanden und seien immer häufiger und organisierter zu Anhörungen erschienen.

„Erst war es eine Person, dann zunehmend Gruppen, die uns filmten, bedrängten, anschrien“, sagt Feller, der seit 25 Jahren als Menschenrechtsanwalt arbeitet. Besonders im Fokus: Fälle, bei denen es um Palästinenser ging. Etwa bei den routinemäßigen Zerstörungen der Häuser von Angehörigen palästinensischer Attentäter oder Hilfslieferungen in den Gazastreifen. Ha-Moked, eine auf die juristische Vertretung von Palästinensern spezialisierte NGO, hatte zwischenzeitlich aus Sorge vor Übergriffen eine private Sicherheitsfirma engagiert. Mehrere Aktivisten berichten von der Veröffentlichung von Privatadressen und Fotos in rechtsreligiösen Chat-Gruppen.

Das Vertrauen vieler NGO-Mitarbeiter durch die Polizei geschützt zu werden, nimmt seit dem Amtsantritt des rechtsextremen Polizeiministers Itamar Ben-Gvir stetig ab. „Wer soll uns schützen, wenn der Polizeichef und immer mehr Kommandeure selbst loyal zu einem rechtsreligiösen Siedler sind?“, fragt Fellers Kollegin Sivan Tahel, zuständig bei ACRI für Polizeigewalt. Die Disziplin habe ab-, die Gewalt durch Beamte zugenommen. Auf ihrem Telefon zeigt sie ein Video eines Polizisten bei einer Demonstration in Tel Aviv im März 2023. Ohne Vorwarnung schleudert der Mann eine Schockgranate in die zu diesem Zeitpunkt friedliche Menge der Demonstranten. „Dabei wurden Menschen verletzt, doch statt diesen Beamten zu belangen, wurde er seitdem mit Ben-Gvirs Unterstützung befördert und die Regeln für den Einsatz solcher Granaten gelockert“, sagt Tahel.

Der Druck auf die Gerichte und die Besetzung vakanter Stellen mit politisch rechts gesinnten Richtern sei spürbar, sagt Feller. Die Gerichte würden bereits jetzt weniger Fälle annehmen, besonders wenn es um den Umgang von Behörden mit Palästinensern ginge. „Wir können uns ausmalen, wie viel Gewicht der Oberste Gerichtshof künftig noch für den Schutz von NGOs in die Waage werfen kann und will, wenn er um sein eigenes Überleben kämpft.“

Getötete Retter: Israel gesteht Fehler ein

Die israelische Armee nennt den Tod von 15 Rettungskräften im Gazastreifen jetzt einen „Fehler“. Das erklärte sie am Sonntag, als sie einen Untersuchungsbericht zu dem Vorfall vorstellte. Am 23. März hatten israelische Soldaten nahe der Stadt Rafah acht medizinische Mitarbeiter des Roten Halbmonds, einen UN-Mitarbeiter sowie sechs Mitglieder des Zivilschutzes, der von der Hamas kontrolliert wird, getötet und mitsamt ihrer Rettungswagen vergraben. Alle Opfer trugen Uniformen von Rettungskräften. Waffen wurden bei ihnen nicht gefunden. Ein verantwortlicher Offizier solle deshalb jetzt seines Postens enthoben werden, so die Armee. Zugleich verteidigte sie das Vorgehen der Soldaten. Es habe „Missverständnisse“ gegeben. Der Palästinensische Rote Halbmond reagierte empört. Der Untersuchungsbericht sei „voller Lügen“, sagte ein Sprecher. „Er rechtfertigt die Tötungen und schiebt die Verantwortung für den Vorfall auf einen persönlichen Fehler in der Einsatzleitung ab.“ (bax)

Jüdisch-israelische Organisationen geraten damit zunehmend unter einen Druck, dem palästinensische Menschenrechtler bereits seit Langem ausgesetzt sind. Googelt man etwa den palästinensischen Anwalt Amal Oraby auf Hebräisch, stößt man als erstes auf eine rechte Hetzkampagne. „Mein Vater hat mich neulich angerufen und gefragt: Was hast du getan? Sie reden über dich in der Knesset!“, sagt er am Telefon.

Oraby schreibt als Kolumnist für hebräische und arabische Zeitungen, hat lange Palästinenser aus Ostjerusalem gegen die Räumung aus ihren Häusern verteidigt und arbeitet heute für die israelische Organisation New Israel Fund als Kommunikationsdirektor. Vergangenen Juli hatte die israelische Anwaltskammer ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet, weil ein rechter Aktivist Beschwerde eingereicht hatte. Oraby hatte die palästinensischen Gefangenen in Israel „Geiseln“ genannt und den rechtsextremen Minister Itamar Ben-Gvir, als „Unterstützer des Terrors“ bezeichnet. Die Lizenz durfte er behalten, fürs Erste.

„Jeden Tag werden faschistische Ansichten in den Medien normaler“, sagt Oraby. „Wir sind zwei Millionen Palästinenser in Israel, die nach der Nakba 1948 in unserem Land geblieben sind. Es gibt heute mehr als 60 Gesetze, die uns diskriminieren.“ Schon 2021 unter dem damaligen Verteidigungsminister Benny Gantz, der sich heute als Oppositionsführer als Gegenpol zu Netanjahu präsentiert, wurden sechs palästinensische zivilgesellschaftliche NGOs als „Terrororganisationen“ deklariert, darunter Al Hak und der Häftlingsverband Addameer.

Orabi, der als Palästinenser an der Uni, vor Gericht oder im Ministerium oft der einzige Araber im Raum sei, lacht viel während er erzählt. Eine lustige Geschichte sei meist effektiver als ein 100-seitiger Bericht. „Wir werden oft ausschließlich als Terroristen beschrieben. Humor ist meine Verteidigung gegen unsere Entmenschlichung.“ Etwa, wenn er sich als Journalist „Experte für die jüdische Gesellschaft“ nennt – entsprechend den Experten für arabische Angelegenheiten, die es bei vielen hebräischen Medien gibt.

Seinen Humor braucht auch Ahmed Muna im Educational Bookshop in Ostjerusalem zunehmend. Zum zweiten Mal in gut einem Monat stand Anfang März ein Dutzend Polizisten vor der Tür der bei Palästinensern wie jüdischen Israelis beliebten Buchhandlung in der Salah-al-Din-Straße. „Jetzt wurden schon mein Vater und mein Onkel und ich festgenommen, ich wette darauf, dass sie nächstes Mal Onkel Murad mitnehmen“, sagt der 33-Jährige mit grauen Locken und Karohemd an der Theke des Familiengeschäfts mit einem Augenzwinkern.

Die Durchsuchungen hätten angesichts der alltäglichen Razzien im Westjordanland wohl kaum für Aufsehen gesorgt, wäre der Laden der Buchhändlerfamilie Muna nicht ein wichtiger Anlaufpunkt für jüdisch-palästinensischen Dialog in Jerusalem, gleichermaßen besucht von Diplomaten, Politikern und Aktivisten. Die Verhaftungen zogen einen internationalen Aufschrei nach sich.

Zum zweiten Mal standen hier vor kurzem Polizisten vor der Tür: Ahmed Muna vor seinem Buchladen in Ost-Jerusalem Foto: Felix Wellisch

Anfang April ist von den Durchsuchungen nichts mehr zu sehen. Im Regal stehen Bücher von Edward Said neben Amos Oz, zwei der bekanntesten palästinensischen und israelischen Schriftsteller. Dafür ist der Laden jetzt voller als zuvor. „Wir sind wegen der Festnahmen hier, um euch zu unterstützen“, sagt einer von zwei jungen jüdischen Israelis, als er zwei Bücher bezahlt. „Danke, das hilft uns“, sagt Muna. Die entstandenen Prozesskosten seien allerdings fast genauso hoch wie die zusätzlichen Einnahmen durch die Solidaritätsbesuche.

Beim zweiten Mal habe für eine Durchsuchung gereicht, dass ein rechter Aktivist sie bei der Polizeistation um die Ecke angeschwärzt habe. „Das bedrückt mich persönlich am meisten, dass sie nicht einmal mehr einen Durchsuchungsbefehl eingeholt haben“, sagt Muna. Damit setzten sich die Beamten auch über eine ausdrückliche Warnung der israelischen Staatsanwaltschaft hinweg. Demnach habe die Polizei bereits bei der Razzia am 9. Februar ihre Kompetenzen überschritten.

Ich habe noch 14 Jahre Zeit, damit meine heute dreijährige Tochter nicht mehr als Soldatin zur Armee muss.

Amir Zif, ehemaliger Soldat

Wenn er von den Haftbedingungen erzählt, wird Muna noch immer gereizt: Von einem Moment auf den anderen seien er und sein Onkel mit Handschellen in Gefängniszellen gebracht worden. „Vier auf vier Meter, zehn Leute, Betten aus Beton und kein Fenster – weil wir Bücher verkaufen.“ Dabei seien Bücher ein Weg für Veränderung und neue Ideen. Ausgerechnet im jüdischen Staat mit seiner Geschichte müssten doch Bücher und Autoren einen besonderen Schutz haben. „Sie haben uns die Störung der öffentlichen Ordnung vorgeworfen.“ Für Muna ist das ein weiterer Schritt, der den Raum für öffentliche Debatten in Israel verengt.

Südlich von Jerusalem muss der Bus von Breaking the Silence Ende Februar auf einem Parkplatz vor dem Checkpoint Turkumija, dem Übergang ins Westjordanland, stoppen. Kaum sind die zwei Dutzend Teilnehmer ausgestiegen, fahren ein gepanzerter Militärjeep und ein Pick-up vor, aus dem etwa zehn schwer bewaffnete Soldaten springen. Ziv bleibt ruhig, er kennt die Prozedur. Auch die Soldaten ziehen sich nach einem kurzen Gespräch zu ihren Fahrzeugen zurück. „Wir sprechen jede Tour vorab mit der Armee ab, sie wussten, dass wir kommen“, erklärte Ziv einigen nervös blickenden Teilnehmern. Wenig später klingelt sein Telefon. „Die Armee hat die Siedlung Kirjat Arba und Hebron für heute zum Sperrgebiet erklärt“, verkündet er der Gruppe. „Wir müssen umdrehen.“

Solche Verbote habe es auch früher gegeben, doch zuletzt hätten sie wieder zugenommen. Im Westjordanland schreite unter dem Siedler und Finanzminister Bezalel Smotrich eine „De-facto-Annexion“ voran, so Ziv. Neugierige Augen seien unerwünscht. Ob er nicht die Hoffnung verliere, dass dieser Konflikt nie enden würde, fragt eine der Teilnehmerinnen aus dem Ausland. Ziv erzählt vom Good Friday Agreement in Nordirland, das mit überraschendem Erfolg eine ebenfalls scheinbar endlose Gewaltspirale beendete. Doch auch für ihn gibt es eine Grenze: „Ich habe noch 14 Jahre Zeit, damit meine heute dreijährige Tochter nicht mehr als Soldatin zur Armee muss.“

Mitarbeit: Hanna Israel

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2 Kommentare

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  • Ich wünschte mir, dass sich unsere Politiker diese Sachen endlich mal zu Gemüte führen und sich überlegen wie man gezielt die israelische Zivilgesellschaft unterstützen kann und nicht weiterhin nahezu bedingungslos eine israelische Regierung, die nicht nur immer rechtsradikaler wird, sondern auch gezielt demokratische Strukturen abbaut und und Völkerrecht in den OPT bricht. Ständig das Mantra der einzigen Demokratie im Nahen Osten zu wiederholen, wird diese Demokratie nicht schützen. Ständig zu wiederholen, dass man sich ans Völkerrecht halten soll, hilft auch nicht dagegen, dass es mittlerweile fast täglich zu massiven Rechtsverletzungen kommt. Alles was hier steht ist schlimm aber vieles auch nicht neu und auch der dt. Regierung lange bekannt: wie die de facto Straffreiheit bei Misshandlung von Gefangenen, bei der Siedlergewalt genauso. Trotzdem hat sich Dtl. dafür stark gemacht, das der IStGH nicht seine Zuständigkeit für Palästina erklärt. Worte reichen schon lange nicht mehr, vor allem dann nicht, wenn alles was man tut zeigt, das universelle Menschenrechte für eine dt. Regierung mal wieder nicht existieren. Die Opfer dieser Politik auf beiden Seiten werden völlig ignoriert.

  • Erschreckend dieser Bericht. Leider bestätigt sich hier was einige Kommentatoren schon seit über einem 3/4 Jahr schreiben. Doch diese welche das geschrieben haben in welche Richtung es geht wurden zum Teil als Antisemiten hingestellt.



    Wo sind diese Leute jetzt?



    Jene eine Entschuldigung für das alles mit "ja aber der 7.10 " kommen?



    Ich sage es noch mal: "Zuerst halten Sie XYZ, ich tat nichts den ich war keiner... usw."







    Mann kann es auf alles Münzen, hier zum Beispiel würde es so lauten "Zuerst holten sie die P. Ich tat nichts war keiner. Dann holten die die Menschenrechtler, ich tat nichts war keiner... usw."



    Nein, ich hoffe nicht, das sich das wahr wird, ich hoffe inständig das Geschichte nicht auf diese Weise ähnlich wiederholt.



    Dennoch sind die gefährlichen Tendenzen da und diese werden immer offensichtlicher.



    Kein Land ist vor Faschismus gefreit, vor Rechten.



    Wer das nicht begreifen kann sollte sich fragen ob er/sie es wirklich "links" ist.