Zeuge belastet Bundesinnenministerium: Schwere Vorwürfe im Fall Amri
Sollte ein Informant, der vor Attentäter Anis Amri warnte, mundtot gemacht werden? Ein LKA-Mann behauptet das – das Innenministerium widerspricht.
Der Kriminalhauptkommissar des LKA Nordrhein-Westfalen hatte in dem Ausschuss am Donnerstagabend von einem Gespräch mit einem BKA-Beamten am 23. Februar 2016, am Rande einer Besprechung beim Generalbundesanwalt, berichtet. Dort habe ihn der BKA-Mann gesagt, der Informant des LKAs in der islamistischen Szene „mache zu viel Arbeit“. Diese Sicht werde auch „von ganz oben“ geteilt. Der Kommissar nannte auf Nachfrage einen leitenden Kriminaldirektor des BKA und den früheren Bundesinnenminister de Maizière. Er sei nach dem Gespräch „geschockt“ gewesen, so der LKA-Mann.
Das Bundesinnenministerium wies diese Darstellung zurück. Das Gespräch des LKA-Kommissars mit dem BKA-Beamten habe es so nie gegeben, demnach seien auch die Aussagen „weder wörtlich noch sinngemäß“ gefallen, sagte ein Sprecher. Auch sei auszuschließen, dass de Maizière oder andere Mitarbeiter des Innenministeriums die Weisung erteilt hätten, den Informanten ruhigzustellen. Dies könne man auch für die Leitungsebene des BKA ausschließen. Schließlich sei es auch falsch, dass es ein Ersuchen des nordrhein-westfälischen LKA an das BKA gegeben habe, den Fall Anis Amri zu übernehmen, welches abgelehnt wurde.
Auch Thomas de Maizière bestreitet die Vorwürfe. Er verwies auf taz-Anfrage auf die Stellungnahme des Bundesinnenministeriums.
Benjamin Strasser, FDP
Die Abgeordneten des Untersuchungsausschusses stufen die Aussagen des LKA-Mannes dagegen als glaubhaft ein. Diese seien „klar und glaubwürdig“ gewesen, sagte FDP-Obmann Benjamin Strasser. „Wenn es der Wille war, die Quelle, die als einzige belastbare Hinweise zu Anis Amri geliefert hat, mundtot zu machen, steht ein handfester Skandal im Raum.“ Auch Linken-Obfrau Martina Renner nannte den LKA-Kommissar glaubwürdig. „Die Verhinderung von Terroranschlägen scheint dem BKA weniger wichtig gewesen zu sein als die Ausschaltung einer bis dato perfekt informierten Quelle.“
Die Abgeordneten wollen nun de Maizière als Zeugen in den Ausschuss vorladen. Dies sei „unumgänglich“, erklärte FDP-Mann Strasser. Ein Mitarbeiter von de Maizière sagte, sobald eine Einladung erfolge, „werden wir darüber entscheiden“.
Der Informant, um den es nun geht, war eine Top-Quelle des LKA in NRW – geführt als VP-01 oder „Murat“. Der Deutschtürke bewegte sich tief in der islamistischen Szene, unter anderem im Netzwerk von Abu Walaa, der als Vertreter des IS in Deutschland galt. Und „Murat“ traf auch Anis Amri, der sich anfangs in NRW aufhielt. Die Polizei warnte der Informant schon Anfang 2016: Der Tunesier schwärme von den Paris-Anschlägen, er wolle in Deutschland „etwas machen“ und suche nach Kalaschnikows. Das LKA NRW hielt „Murat“ für glaubwürdig, auch durch die jahrelange Zusammenarbeit.
Als Amri seinen Lebensmittelpunkt nach Berlin verlegte, brach der Kontakt zu „Murat“ ab. Auch das LKA NRW übergab den Fall an der Berliner LKA. Dort ließ man eine Observation im Sommer 2016 schließlich auslaufen, weil man Amri nur noch für einen Drogendealer hielt. Eine fatale Fehleinschätzung.
Der LKA-Kommissar aus NRW sagte, Polizeibeamte aus seinem Bundesland hätten in den Monaten vor dem Anschlag mehrfach Druck in Berlin gemacht, wo Amri nur „relativ nachlässig“ überwacht wurde. Eine weitere Beamtin des nordrhein-westfälischen LKA sagte am Donnerstag im Ausschuss, sie habe Amri „durchaus als gefährlich eingeschätzt und als unberechenbar“. Als sie später erfahren habe, dass Amri in Berlin nicht mehr so engmaschig beobachtet wurde, sei bei ihr ein „ungutes Gefühl“ entstanden.
Am 19. Dezember 2016 schließlich erschoss Amri einen Lkw-Fahrer in Berlin und fuhr mit dessen Fahrzeug in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Dabei starben 11 Menschen, rund 60 wurden verletzt. Es war der bisher schwerste islamistische Anschlag in Deutschland. (mit dpa)
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