Zerstrittene Koalition in Israel: Verschnaufpause in der Regierungskrise
Die Regierung um Premier Netanyahu schien kurz vor dem Fall wegen des Streits über den Wehrdienst für Ultraorthodoxe. Doch die Krise wurde abgewandt – erstmal.

Es war schon früh am Morgen, als die Parlamentarier*innen mit teils müde wirkenden Gesichtern über die Zukunft von Israels aktueller rechtsreligiöser Regierung – bestehend aus Netanjahus Likud, zwei ultraorthodoxen Parteien und weiteren – entschieden. 61 Politiker*innen stimmten gegen den Gesetzentwurf, der das Parlament auflösen sollte, 53 dafür. Die Regierung bleibt somit bestehen. Außerdem darf die Opposition in den nächsten sechs Monate nicht erneut ein solches Gesetz einbringen.
Auslöser der Krise ist ein Streit über die Wehrdienstpflicht für ultraorthodoxe Männer, der inzwischen seit Monaten andauert. Und dieser ist indes alles anders als gelöst. Seit Monaten kämpfen die Ultraorthodoxen für eine Verlängerung von Regelungen, die ihnen seit der Gründung Israels erlaubten, sich der Wehrdienstpflicht zu entziehen. Theoretisch wären alle Israelis inklusive männlicher Drusen und Zirkassen dazu verpflichtet, in der Armee zu dienen. Doch für sogenannte Haredim – ultraorthodoxe Juden – galten Ausnahmen.
Dan Avnon, israelischer Politikwissenschaftler
Junge Männer, die sich dem Studium der Torah in einer religiösen Schule widmen, konnten bislang einfach Jahr um Jahr einen Befreiungsantrag stellen, um sich der Einberufung zu entziehen. Aus religiösen Gründen, da in der israelischen Armee Frauen ebenso dienen. Und auch, weil sie nach eigener Ansicht durch das Lernen der religiösen Schriften ihren Dienst zum Schutz der Gemeinschaft leisteten.
Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Offensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.
Bloß vor etwa einem Jahr hatte Israels oberstes Gericht beschlossen: Die Regierungsentscheidung, ultraorthodoxe Männer nicht einzuberufen, sei juristisch nicht haltbar. Seither streiten sich die Parteien um ein Gesetz, das die Ultraorthodoxen zum Dienst verpflichtet. Die Krise spiegelt den Unmut in der israelischen Gesellschaft wider. Vor allem seit dem Beginn des Kriegs in Gaza ab dem 7. Oktober 2023 betrachten viele die Ausnahme für Haredim als unfair. 866 Soldat*innen sind seit Beginn des Konflikts gestorben, Tausende wurden verwundet. Viele Säkulare haben das Gefühl, sie schulterten die gesamte Last alleine. Haredim machen etwa 13 Prozent der israelischen Gesellschaft aus.
Keine Einigung über das Gesetz zur Einberufung

Der vorgeschlagene Gesetzentwurf sah harsche, teils finanzielle Sanktionen für Wehrdienst-Verweigerer vor: Verlust von Bildungszuschüssen, Führerschein, das Verbot, das Land zu verlassen, aber auch etwa einen Ausschluss von Sozialversicherungsleistungen und Steuererleichterungen. Dieser Entwurf führte zur aktuellen Regierungskrise.
„Die Ereignisse von gestern sind ein Hinweis darauf, dass sie einen Kompromiss finden wollen – aber ihn noch nicht haben“, sagt die bekannte israelische Journalistin Lahav Harkov Levine. Die ultraorthodoxen Regierungsparteien hätten gegen den Gesetzentwurf für neue Wahlen abgestimmt. Sie seien allerdings nicht davon überzeugt worden, dem Gesetzentwurf für die Einberufung zuzustimmen. Laut Analyst*innen wäre eine Auflösung der Koalition nicht im Interesse der ultraorthodoxen – sie brauchen diese als Hebel der Macht. Gleichzeitig wollen sie aber weiterhin eine Zwangseinberufung der Haredim verhindern – was langfristig auch in dieser Regierung wohl schwer umsetzbar ist.
„Die Frage ist: Zerbricht die Regierung an dieser Krise jetzt – oder in einem halben Jahr?“, sagt der israelische Politikwissenschaftler Dan Avnon der taz. Dieser Streit, meint er, werde „irgendwann dazu beitragen, dass es zu vorgezogenen Wahlen kommt.“ Ob dies auch das politische Ende des Premiers Netanjahu bedeuten würde, ist unklar. Jüngste Umfragen zeigen einen weit verbreiteten Unmut gegenüber dem amtierenden Regierungschef – doch der findet bislang immer einen Trick in der Kiste. So wie in den vergangenen 24 Stunden.
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