Zentralisierung von Geburtsstationen: Risiko Geburt
Immer mehr kleine Geburtsstationen auf dem Land werden geschlossen. Die Zentrierung in den Großstädten ist billiger – aber nicht unbedingt besser.
A m 17. November 2021 stirbt in der kommunalen Imland-Klinik in Eckernförde bei der Geburt ein Neugeborenes. Knappe vier Wochen später schließt die nördlich von Kiel gelegene Klinik ihre Geburtshilfestation. Der Geschäftsführer begründet dies in einer Pressemitteilung mit einem von ihm beauftragen Gutachten. Nur einen Tag später zitiert ein Redakteur der Eckernförder Zeitung aus diesem nicht öffentlichen Papier.
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Die Klinik hätte die Schwangere nicht annehmen dürfen, schreibt der Journalist, da es sich um eine Risikogeburt gehandelt habe. Eckernförde darf aber nur erwartbar komplikationslose Geburten betreuen. Zudem sei das verstorbene Kind zu groß für eine vaginale Geburt gewesen, „ein Kaiserschnitt wäre erforderlich gewesen“. Deshalb soll es im Geburtskanal stecken geblieben sein. Im Januar legt die Lokalzeitung nach: Der Gutachter hätte weitere 60 von 800 Geburten identifiziert, die dort nicht hätten stattfinden dürfen.
Es ist möglich, dass es in Eckernförde Geburten gab, die nach medizinischen Leitlinien an sogenannte Perinatalzentren verlegt werden sollen. Aber das Gewicht eines Fötus kann vor der Geburt nur geschätzt werden, bei schweren Kindern über 4.000 Gramm liegt die Fehlerquote Studien zufolge bei 30 bis 40 Prozent. Nach den Leitlinien spricht ein hohes Geburtsgewicht nicht gegen eine Geburt in einer Klinik wie Eckernförde und ist keine Indikation für einen Kaiserschnitt, auch wenn das Risiko einer so genannten Schulterdystokie erhöht ist. Diese führt nicht automatisch zu Verletzungen oder Tod. Ein Artikel voller Fehler.
Doch der Verdacht ist in der Welt: Ärzte und Hebammen der Imland-Klinik haben schlecht gearbeitet. So schlecht, dass ein Baby gestorben ist. Ob wirklich „Diagnose- und Behandlungsfehler“ vorlagen, wie der Lokalredakteur kolportiert, lässt sich anhand von Akten nicht sagen. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Kiel, die wie immer in solchen Fällen ermittelt, schreibt der taz, es habe sich kein Anfangsverdacht einer Straftat ergeben, auch nicht aus dem klinikeigenen Gutachten. Die Todesursache werde noch ermittelt.
Dennoch begründet die Klinikleitung die Schließung der Geburtshilfe mit dem Todesfall. Und verschweigt, dass es seit 2012 bereits mehrere erfolglose Versuche gegeben hat, die Geburtshilfe in Eckernförde zu schließen. Immer wieder protestierten Bürger:innen: Schwangere sollten nicht bis zu einer Stunde zum nächsten Kreißsaal fahren müssen.
So brutal es klingt: Nichts dreht die öffentliche Meinung so gut wie ein totes Baby. Niemand stellt sich nach einem solchen Unglück vor eine Geburtsklinik und fordert deren Erhalt. Vor acht Jahren geschah Ähnliches auf Sylt. Der Hamburger Asklepios-Konzern wollte die Geburtshilfe loswerden und zog am Ende den Trumpf: In drei Vorjahren seien zwei Neugeborene gestorben, ein drittes zu Schaden gekommen. Konsequenzen hatte der Konzern zuvor nicht gezogen.
Nicht immer greifen Klinikbetreiber zu solch drastischen Mitteln. Meist werden Kreißsäle einfach dichtgemacht. Weil Personal fehlt, weil sie zu teuer sind. Die Honorierung normaler Geburten deckt die Kosten erst ab einer gewissen Fallzahl. Ob es 600 jährlich sein müssen oder 1.000, hängt auch davon ab, inwiefern die Klinikleitung Geburten als Marketingmaßnahme begreift.
Laut wissenschaftlichem Dienst des Bundestags gab es 2010 noch 811 Kliniken mit Geburtshilfe, 2018 noch 682 – bei steigenden Geburtenraten. Überproportional häufig trafen Schließungen Kliniken mit weniger als 500 Geburten. Die Website des Elternvereins Motherhood zeigt den aktuellen Stand: Seit 2018 wurden 37 weitere Stationen geschlossen.
Die verbleibenden werden zwangsläufig immer größer. Manche riesig. 5.300 Geburten gab es an der Berliner Charité 2020, im Schnitt 14,5 pro Tag. Eine „ruhige, persönliche und vertrauensvolle Atmosphäre“ ist so schwer herzustellen. Dabei sei die entscheidend für einen guten Geburtsverlauf, wie Anton Scharl, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, in einem Interview auf deren Website sagt.
„Schöne“ oder „sichere“ Geburten
Doch die Befürworter:innen der Zentralisierung versprechen keine „schönen“ Geburten, sondern „sichere“, wie die Süddeutsche Zeitung 2017 kommentierte. Dabei fehlen handfeste Belege dafür, dass Geburten in Kliniken mit hoher Geburtenrate per se sicherer sind. Es gibt nur wenige Studien mit beschränkter Aussagekraft. Auch Scharl spricht in dem Interview nur von „Hinweisen, dass es in sehr kleinen Abteilungen relativ häufiger zu Komplikationen kommt“.
Aber wie klein ist „sehr klein“? Wann wird es kritisch und warum? Ein Argument ist mangelnde Routine, um eine brenzlige Situation zu erkennen und richtig zu reagieren. „Ein bis zwei Kinder am Tag sollten geboren werden“, sagt etwa die erfahrene Geburtshelferin Katharina Lüdemann, die als Oberärztin die Geburtshilfe am Sankt-Joseph-Stift in Bremen mit 2.000 Geburten im Jahr leitet.
Doch die Menge allein mache es nicht, sagt sie in Übereinstimmung mit Verbandspräsident Scharl. Entscheidend sei, dass qualifiziertes Personal vor Ort ist. Und das ist knapp. Hebammen und Gynäkolog:innen können sich aussuchen, wo sie arbeiten wollen. Und gehen dorthin, wo ihnen gute Bedingungen geboten werden, etwa eine Festanstellung. Denn die erste Sparmaßnahme vor dem endgültigen Aus ist immer, auch in Eckernförde: die Belegschaft outsourcen. Die Ärzt:innen sind dann Niedergelassene, die Geburten neben der Praxis machen.
Die Hebammen arbeiten als Selbstständige im Belegsystem. Das kann funktionieren, vorausgesetzt, sie werden gut durch die Klinik unterstützt und arbeiten in Teams mit geregelten Schichten. In Eckernförde begleitete eine Hebamme eine Geburt bis zum Ende, egal wie lange sie dauerte. Das ist nicht die 1:1-Betreuung, die SPD, Grüne und FDP jetzt etablieren wollen. Nur deren Sparversion.
Auch in großen Kliniken fehlt Personal; Festanstellung ist nicht alles. Nur fallen die Probleme dort nicht so auf. Da werden für hohe Honorare Leihärzt:innen eingekauft, die oft – sagen unter der Hand Kolleg:innen und Hebammen – keine Ahnung von Geburten haben. Dafür bekommen sie immer rechtzeitig ein OP-Team für einen Kaiserschnitt zusammen.
In der kleinen Klinik auf dem Land muss die Anästhesistin vielleicht erst zu Hause aus dem Bett geholt werden. Und wenn eine Hebamme mehrere Geburten parallel betreut und niemand mitbekommt, dass die Herztöne eines Fötus plötzlich schlechter werden, dann kann er im großen Perinatalzentrum nach der Entbindung sofort auf die Kinderstation verlegt werden. Zwanzig Minuten im Rettungswagen können hingegen tödlich sein.
Ist es da nicht schlüssig, Personal an wenigen Stellen zu bündeln? Ja, wenn effektiv gebündelt würde. Wenn aber wie in Eckernförde binnen drei Tagen der Kreißsaal schließt, müssen die Gebärenden von anderen Kliniken aufgefangen werden, die oft schon aus allen Nähten platzen. Ohne Vorbereitung, ohne Neueinstellung. „Es fragt auch niemand danach, ob überhaupt genügend Räume zur Verfügung stehen oder ob die erst gebaut werden müssen“, kritisiert Andrea Ramsell vom Deutschen Hebammenverband mit rund 20.000 Mitgliedern. „Dann kommt eben noch ein Kind mehr im Sozialraum zur Welt.“
Oder auf dem Parkplatz eines Baumarkts. Im Januar gebar eine Frau in Eckernförde ihr Kind in einem Rettungswagen. Die Sprecherin der Imland-Klinik schreibt dazu der taz: Die werdenden Eltern hätten sich „aufgrund beginnender Wehentätigkeit telefonisch im Kreißsaal gemeldet“, sich aber „sehr viel später“ als geraten auf den Weg in die nächstgelegene Klinik gemacht.
Hier zeigt sich ein grundlegendes Problem. Wenn die Geburtsstationen auf dem Land schließen, verschwinden nicht nur die Orte, an denen die Kinder zur Welt kommen. Sondern auch diejenigen, die ertasten, wie weit ein Muttermund geöffnet ist. Und beurteilen können, ob das, was eine Erstgebärende beschreibt, tatsächlich Eröffnungswehen sind. Oder sie sich beruhigt wieder hinlegen können. Jede dritte Schwangere komme mit solchen und ähnlichen Anliegen in die Notfallsprechstunde der Kliniken, sagt Ramsell vom Hebammenverband. „Wo sollen die hin?“
Todesfälle sind sehr selten
Aber auch diese Frage verschwindet hinter der einen: Wie verhindert man die – seltenen – Todesfälle unter der Geburt? 0,47 Prozent aller in Kliniken Neugeborenen starben 2020 laut Perinatalbericht im zeitlichen Zusammenhang mit der Geburt, die meisten als Frühgeborene. Doch selbst wenn eine Klinik nur komplikationslose Fälle annimmt: Auch eine völlig normal erscheinende Geburt, könne sich plötzlich zum Notfall entwickeln, sagt Katharina Lüdemann, die Bremer Oberärztin. „Wir hatten das gerade letzte Woche“, erzählt sie: „Die Frau kam mit leichten Blutungen, nichts Ungewöhnliches, aber innerhalb von zehn Minuten wurden die so stark, dass klar war, die Plazenta löst sich.“ Das Kind musste sofort per Kaiserschnitt geholt werden.
Christoph Reiche ist seit 2006 Chefarzt der Gynäkologie und Geburtshilfe am St.-Johannes-Hospital in Varel, 70 Kilometer nordwestlich von Bremen. 833 Geburten gab es in der 25.000-Einwohner*innen-Stadt 2021, vor zehn Jahren waren es 375. Seitdem sind es jährlich mehr geworden. Auch hier wurden mehrere Kreißsäle in der Umgebung geschlossen. Die Geburtshilfe unter Reiche hat einen guten Ruf. Deshalb hat er auch keinen Hebammenmangel zu beklagen. „Wir haben mehr Bewerbungen als Stellen.“
Es handelt sich wie in Eckernförde um eine reine Geburtsklinik, ein Haus der Versorgungsstufe IV, ohne Kinderklinik. Die anderen heißen Perinatalzentren der Level I bis III, im Level I werden die extremen Frühgeburten betreut. Reiche ärgert die schlichte Gleichung klein = unsicher, groß = sicher. „Natürlich können wir sichere Arbeit machen“, sagt er. Unvorhersehbare Notfälle seien so selten, dass sie auch in einer großen Klinik mit entsprechend vielen Mitarbeiter:innen nicht für jede Fachkraft an der Tagesordnung seien. Sein Team macht regelmäßig Notfalltrainings.
Reiche hält sich strikt an alle medizinischen Leitlinien, auch, weil er den Ehrgeiz hat, dass sein Haus als erste Geburtsklinik des Levels IV zertifiziert wird, für Geburtshilfe nach höchstem Qualitätsstandard. Dazu gehört auch die schnelle Verfügbarkeit von OP-Teams. Und er hat im letzten Jahr geprüft, ob seine Klinik aufgrund neuer Leitlinien stärker aussieben muss. Sie muss: 52 Schwangere wurden 2021 abgewiesen. Steißgeburten, wenn das Kind mit dem Po im Becken liegt, und Zwillingsgeburten machen sie jetzt nur noch, wenn die Frau mit Wehen in der Tür steht.
Das ist zwar leitlinienkonform, aber Reiche tut es trotzdem leid. „Für die meisten dieser Frauen heißt das, dass sie per Kaiserschnitt entbunden werden.“ Die gerade erst überarbeiteten medizinischen Leitlinien zur Sectio Caesarea berücksichtigen deutlicher als je zuvor die Nachteile einer hohen Kaiserschnittrate. Auch deshalb fordert Reiche, dass die Perinatalzentren sicherstellen müssen, dass sie auch schwierigere Geburten ohne OP zu Ende gehen lassen können.
Doch die Kliniken der Maximalversorgung, sagt auch Reiches Kollegin Katharina Lüdemann, neigen häufig zu einem maximalen Einsatz an Technik und Medikamenten – mit allen Nebenwirkungen und Risiken, die das produziert: „Da wird jede wie eine Hochrisikoschwangere behandelt.“ Dabei seien die meisten Geburten natürliche Vorgänge, die am besten verliefen, wenn sie nicht gestört werden.
Das kann in großen Kliniken gelingen und in kleinen scheitern. Aber darum geht es in der öffentlichen Diskussion selten. Wer kennt schon das „nationale Gesundheitsziel Geburt“, das die Qualität von Geburtshilfe nicht nur daran misst, ob alle Beteiligten überlebt haben? Tote Babys lassen sich leichter zählen als gesundheitliche Schäden, die entstehen, wenn das Leben mit Stress und Angst beginnt.
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