Zehn Jahre nach dem Tsunami: Wie gestern und fast vergessen
Nirgendwo wütete der Tsunami so verheerend wie in der Provinz Aceh in Indonesien. Wie findet man nach so einer Katastrophe wieder ins Leben?
Baharuddin will nicht mehr zurückschauen, sondern nach vorne. Und dennoch erzählt der Dorfchef von Lam Teungoh seine Geschichte immer wieder. Als eine Art Selbsttherapie. Und gegen das Vergessen. Denn an sein erstes Leben sind ihm kaum Andenken geblieben. An das vor dem Tsunami.
Der „Kommandant“, wie die Leute in der Gegend den Vorsitzenden der lokalen Fischervereinigung nennen, wirkt dabei wie ein Medienprofi. Im Batikhemd sitzt Baharuddin, 56 Jahre alt, auf einem thronartigen Sessel in seinem Wohnzimmer. Sein Gesicht ist von Sonne und Wind gegerbt. Nach jeder Episode macht er eine Pause.
Ruhig und scheinbar unbewegt beschreibt er bis ins Detail, wie ihm der Tsunami vor zehn Jahren seine gesamte Familie genommen hat. Sein Haus, sein Dorf – schlichtweg alles. Und wie er dennoch weiterlebte mit all dem Schmerz. Wie er Haus und Dorf wiederaufbaute und es am Ende sogar schaffte, eine neue Familie zu gründen.
Auf der rosa und grün gestrichenen Wand in seinem Wohnzimmer hängt in einem Rahmen ein Gedicht. Er hat es selbst verfasst, wenige Wochen nach der Katastrophe:
„Tag für Tag / bade ich in Tränen, wenn ich mich erinnere, / wie schön es mit meinen geliebten Kindern war. / Ich möchte fragen, aber – sie sind nicht mehr da.“
„Das Wasser steigt!“
Der 26. Dezember 2004 war ein Sonntag. Die Uhr zeigte zwei Minuten vor acht, als ein Seebeben der Stärke 9,1 etwa 85 Kilometer vor der Nordwestküste Sumatras die Erde erschütterte. Baharuddin arbeitete um diese Zeit schon auf dem Reisfeld. Der schlammige Boden wackelte auf einmal so stark, dass er sich hinlegen musste.
Er erinnert sich, dass die Affen auf den nahen Hügeln kreischten, selbst als das Beben vorbei war. Das war ungewöhnlich. Als er danach sofort zu seiner Familie zurückrannte, um zu sehen, ob zu Hause alles in Ordnung wäre, war die Straße plötzlich voller Menschen, die schrien: „Das Wasser steigt, das Wasser steigt!“
Christina Schott, 43, ist freie Südostasienkorrespondentin für weltreporter.net. Ihre Reise wurde vom Bündnis „Entwicklung Hilft“ finanziert.
Er konnte noch seine jüngste Tochter schnappen, die gerade einen Monat alt war. Dann sah er die riesige Wasserwand hinter sich, höher als eine Kokospalme. Ganz oben schwamm ein komplettes Haus. Die Welle riss ihm den Säugling aus den Armen, an mehr erinnert er sich nicht mehr. Als er wieder zu Bewusstsein kam, war er auf einem Hügel, um sich herum sah er nur Wasser. Seine elfjährige Tochter Dian Bahari lag schwer verletzt neben ihm und fragte: „Papa, ist das alles ein Traum?“ Es waren ihre letzten Worte.
Strafe Gottes
Niemand aus Baharuddins Familie überlebte die Katastrophe. Seine Frau, seine fünf Kinder, seine Eltern, seine Geschwister, kurz, alle Verwandten kamen in den bis zu 30 Meter hohen Wellen um, die an jenem Morgen über die Küsten des Indischen Ozeans rollten. 230.000 Menschen starben im größten Tsunami unserer Geschichte. Doch am schlimmsten traf es Baharuddins Heimat Aceh. Allein hier verloren mehr als 170.000 Menschen ihr Leben. Eine halbe Million Acehnesen hatte kein Zuhause mehr. In Lam Teungoh, das rund 500 Meter vom Meer entfernt liegt, überlebten nur 93 der 1.500 Bewohner. Darunter lediglich vier Frauen und zehn Kinder. Die meisten, weil sie gerade nicht zu Hause waren.
„Allah wollte uns prüfen“, sagt Baharuddin. Wie viele der streng islamischen Acehnesen glaubt er, dass der Tsunami eine Strafe Gottes war für den Bürgerkrieg, der damals herrschte.
Heute wohnen wieder um die 300 Menschen in dem Fischerdörfchen, viele sind neu hergezogen oder haben eingeheiratet. Die Sonne brennt auf das rosa gestrichene Haus Baharuddins. Es steht an genau der gleichen Stelle wie sein altes. Davor spielt eine Horde kleiner Jungen Fußball. Hundert Meter weiter hat ein moderner Minisupermarkt aufgemacht.
Kinder, jünger als 10 Jahre
Auf den ersten Blick erinnert nichts an den Tsunami vor zehn Jahren. Es sind kleine Details, die darauf hinweisen: ein verblichener Wegweiser, auf dem ein Männchen vor einer Welle davonläuft, „Jalur Evakuasi“, Fluchtweg, steht darüber; außerdem das Alter der Kinder, die meisten sind jünger als zehn Jahre. Und auch die Bäume sind alle nur so hoch, wie sie eben in einem Jahrzehnt wachsen können.
Vor zehn Jahren gab es keine Warnschilder. Auch kein teures Tsunami-Frühwarnsystem aus Deutschland oder gar Übungen für den Ernstfall, wie sie heute abgehalten werden. Die Menschen hier kannten weder das Wort Tsunami, noch konnten sie die Anzeichen dafür deuten. Als sich das Meer nach dem Beben Hunderte Meter zurückzog, rannten viele noch hinterher, um die im Schlick zappelnden Fische aufzusammeln. Sie hatten keine Chance.
Aus Angst vor dem unberechenbar gewordenen Ozean verbrachten die Überlebenden von Lam Teungoh eine schreckliche Nacht im Regen auf dem Berg. Die meisten waren nackt, der Sog des Meeres hatte ihnen die Kleider vom Leib gerissen. Manche mussten festgebunden werden, um in ihrem Leid nicht völlig durchzudrehen. Danach flüchteten sie in eine Schule im nahen Banda Aceh. Zwar war auch die Provinzhauptstadt mit 220.000 Einwohnern zur Hälfte zerstört, doch der Flughafen war in Betrieb: Hier gab es Lebensmittel, sauberes Wasser, und die Verletzten konnten versorgt werden.
Wiederaufbau in der verbotenen Zone
Baharuddin, schon damals Dorfchef, übernahm sofort das Kommando. Er erkannte schnell, dass das Leben im Camp zwar bequemer schien, die Zukunft seiner Leute aber von Regierung und Hilfsorganisationen abhängen würde. „Alles war besser, als tagsüber rumzusitzen und jede Nacht nur das Leiden der anderen anzuhören“, sagt er.
Mit einigen Männern ging er zurück. Sie fingen an, die Toten zu begraben – und sammelten alles, was sich irgendwie eignete, daraus Notunterkünfte zu bauen. Baharuddin zeigt das Foto einer Hütte, die ausschließlich aus leeren Plastikflaschen gebaut ist. Auch den Ausweis seines ältesten Sohnes hat er seit damals wieder. Ein Bergungstrupp fand den verwesenden Leichnam unter einer großen Palme. Der Vater war wochenlang daran vorbeigelaufen, er hatte die Suche nach seinen Angehörigen schon aufgegeben.
Nur von seinem Land – alles, was ihm geblieben war – wollte er nicht lassen. Die Regierung hatte angekündigt, dass ein zwei Kilometer breiter Küstenstreifen nicht wiederbebaut werden sollte. Baharuddin und seine Leute dachten aber nicht daran, sich umsiedeln zu lassen.
Keine Hilfe von außen
Die Bewohner misstrauten der Politik nicht ohne Grund. Seit 1985 hatten sich die Rebellen der Befreiungsbewegung von Aceh, bekannt als GAM, und das indonesische Militär einen blutigen Bürgerkrieg geliefert. Lam Teungoh galt als Hochburg der Rebellen. Obwohl schon zwei Tage nach dem Tsunami ein Waffenstillstand ausgerufen wurde und alles getan wurde, um ausländische Helfer nach Aceh zu lassen: In dem Dorf am Meer kam von der immensen internationalen Hilfswelle, die nach dem Tsunami anrollte, erst einmal nichts an. Militär und ausländische Hilfsorganisationen mieden das Gebiet.
Die Einzigen, die bis nach Lam Teungoh durchdrangen, waren die Aktivisten von Uplink. Was sich als Glück für das Dorf herausstellen sollte. Denn Urban Poor Linkage, wie die Menschenrechtsbewegung ausgeschrieben heißt, war eine damals noch recht junge Organisation, die die Menschen einbeziehen wollte. In Indonesien, wo Hilfe in der Regel von oben verordnet wird, damals noch ein revolutionärer Ansatz.
„Auf einmal standen da ein paar junge Leute in Badelatschen und wollten uns helfen“, schildert Baharuddin die erste Begegnung mit einem Anflug von Schmunzeln. „Sie nahmen uns am Anfang nicht ernst“, bestätigt Yuli Kusworo, der unter den ersten Helfern war, die durch das GAM-Gebiet zur Küste vordrangen. „Tagsüber arbeiteten wir bis zum Umfallen, und nachts hörten wir die Geschichten der Überlebenden an. Nach zwei Wochen war ich der Einzige aus meiner Gruppe, der noch hier war“, erzählt der 38-jährige Architekt, der damals seine Frau mit einem einmonatigen Kind in Java zurückgelassen hatte. Langsam wuchs das Vertrauen.
Nicht zweimal an der selben Stelle
Der Dorfvorsteher erkannte, dass die Menschenrechtler eine Chance boten: Mitbestimmung. Gemeinsam mit Uplink organisierte er einen Zusammenschluss von 23 Dörfern in der „verbotenen“ Zweikilometerzone. Dieses Netzwerk konnte der Regierung und Hilfsorganisationen als starker Verhandlungspartner gegenübertreten.
„All die wichtigen Leute kamen und wollten uns überzeugen, dass wir woanders hinziehen sollten“, erzählt er. „Doch ich antwortete, dass die Menschen in ganz Indonesien direkt am Meer leben.“ Und dass es ziemlich unwahrscheinlich sei, dass eine solche Katastrophe zweimal genau die gleiche Stelle treffe, sagt Baharuddin. Auf den Fotos an seiner Wohnzimmerwand schüttelt der Dorfchef – damals noch mit dunklem Schnauzbart – die Hände nationaler und internationaler Prominenz.
„Wir waren das erste Dorf, das schon nach einem Monat zurückkehrte“, sagt Baharuddin und klingt stolz dabei. Nicht zuletzt wegen der entschlossenen Weigerung des Uplink-Netzwerks, sich umsiedeln zu lassen, ließ die Regierung den Plan für die Zweikilometerzone bald fallen.
Zerfranster Flickenteppich
Ein halbes Jahr nach dem Tsunami, als andere Hilfsorganisationen erst über die Planungen für den Wiederaufbau nachdachten, begannen die Menschen, mit Unterstützung von Uplink bereits die ersten von bald 3.500 Häusern in ganz Aceh zu errichten. Das Geld dafür kam von Misereor: mehr als 15 Millionen Euro. Es war eines der größten Projekte, das jemals in Indonesien von einer Nichtregierungsorganisation verwirklicht wurde.
Heute führen neu asphaltierte Straßen von Banda Aceh bis zu der Landzunge von Lam Teungoh. Die frisch gepflanzten Reisfelder leuchten tiefgrün. Bunt gestrichene Boote schaukeln in der Uferzone. Nur aus der Vogelperspektive sind die Spuren des Tsunamis in der einst klaren Küstenlinie zu erkennen: Lagunen und Buchten durchbrechen die Geometrie von Straßen und Reisfeldern. Wie ein zerfranster Flickenteppich.
Während sich in anderen Wiederaufbauprojekten die Fertigbauten oft nur durch die verblichenen Logos der jeweiligen Hilfsorganisationen unterscheiden, sind die Dörfer hier in der Gegend individuell gestaltet. Die Bewohner durften zwischen verschiedenen Haustypen wählen und sie umgestalten, wenn sie das Geld dafür hatten. Nicht wenige werden bereits als Ferienhäuser vermietet.
Die Moschee blieb ganz
Der Küstenstreifen ist zum Ausflugsziel geworden, vor allem für Städter, die der Hektik des nahen Banda Aceh entfliehen wollen. Im nahen Ulee Lheue tummeln sich am Wochenende wieder Touristen am Strand oder sitzen in den Kaffeehäusern, wo der berühmte Aceh-Kaffee traditionell in hohem Schwung durch lange Beutelsiebe gefiltert wird – „den Kaffee ziehen“, nennen das die Einheimischen.
Die große Moschee an der Hauptkreuzung ist das einzige Gebäude in dem Hafenort, das den Wassermassen vor zehn Jahren standhalten konnte. Nur hundert Meter weiter erinnert ein Massengrab daran, dass der Tsunami hier fast alles Leben ausgelöscht hatte. Unter der gewellten Grasdecke liegen 14.800 Tote, die meisten konnten nie identifiziert werden.
Ein kleines Schild im Schatten eines Tamarindenbaumes zeigt, wo die Kinder begraben wurden. Genau hier verlief früher die unsichtbare rote Linie des Bürgerkriegs, auch sie ist Geschichte. Nach intensiver Vermittlung des ehemaligen finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari unterschrieben die Kriegsparteien am 15. August 2004 ein Friedensabkommen, das Aceh regionale Autonomie zugestand. Die GAM gab die Waffen ab und formierte sich zur Partei um.
Die Antwort auf die Katastrophe: Glauben
Die Menschen in Aceh sind tiefreligiös. Sie empfanden den Tsunami als Strafe Gottes für den Bürgerkrieg. Die Provinz ist heute die einzige in Indonesien, in der die Scharia gilt. Die Religionspolizei wacht über die Sittsamkeit in den Cafés von Banda Aceh oder am Strand von Ulee Lheue. Schilder in großen Lettern verbieten intime Zweisamkeit. Auf Alkoholgenuss, Glücksspiel und unehelichen Sex stehen Stockhiebe, seit September auch auf homosexuelle Handlungen. Die Strafe wird nach dem Freitagsgebet öffentlich vor der Moschee vollstreckt.
Zwar genehmigte die säkulare Regierung in Jakarta schon seit 1999 einzelne Schariaverordnungen. Aber bis 2004 wurden sie kaum durchgesetzt. Das änderte sich nach der Katastrophe. Außerdem brachte der Helferstrom viele westliche Einflüsse in die zuvor isolierte Provinz, etwa Biertrinken oder uneheliche Liebesbeziehungen. Das gab dem islamischen Gesetz Auftrieb.
Kaum ein Acehnese würde wagen, die Scharia zu kritisieren. Doch heute sind viele über die Anwendung desillusioniert: Es trifft fast ausschließlich kleine Leute, Personen mit Geld und Einfluss haben von der Sittenpolizei nichts zu fürchten. „Wenn schon Scharia, dann muss sie für alle gelten“, schimpft der sonst so beherrschte Baharuddin. Er ist mehr als enttäuscht von den ehemaligen GAM-Leuten, die heute die Politik in Aceh bestimmen. „Wir haben gelitten und sind verprügelt worden für die da oben. Jetzt fahren sie große Autos und haben uns vergessen.“
Nicht mehr allein sein
Seine Hoffnungen liegen nun auf seinem Sohn Ikram. Ein riesiges Foto über dem Sofa zeigt den Fünfjährigen mit drei Cousinen und Cousins. Seine Mutter, Rozma Wardhani, ist eine der vier überlebenden Frauen aus dem Dorf. Auch sie hat ihren Mann verloren, und vier Kinder. Als Baharuddin 2007 um ihre Hand anhielt, sagte sie Ja. Um nicht mehr allein zu sein, um ihr Leid zu vergessen.
„Die Liebe war nicht wichtig. Ich wusste, dass ich mir bei Baharuddin keine Sorgen machen brauchte“, sagt die 40-Jährige, die mit ihren eingefallene Wangen viel älter aussieht. „Ich bin sehr glücklich, dass ich noch einmal einen Sohn bekommen konnte“, fügt sie hinzu, „als Ersatz für die anderen Kinder.“
Ikram spielt vor der Tür Fußball. Er hat weder den Bürgerkrieg noch den Tsunami erlebt. Dafür weiß er, was er bei einem Alarm machen muss: so schnell wie möglich in Richtung Berge rennen. „Wir müssen vorausschauen. Die Vergangenheit ist vorbei, die Toten sind begraben“, sagt sein Vater. Doch um eine bessere Zukunft aufzubauen, müssten die Kinder auch die Geschichte ihrer Eltern kennen. „Eine Naturkatastrophe kann man nicht verhindern. Doch kein Trauma ist schlimmer als das eines Kriegs, in dem sich Brüder gegenseitig umbringen“, sagt Baharuddin. Dann steigt der Kommandant von Lam Teungoh aufs Moped und fährt zum Abendgebet in die Moschee.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung