Zehn Jahre nach Hurrikan „Katrina“: „Einfach so weg“

Biloxi im US-Bundesstaat Mississippi lag im Zentrum von „Katrina“. Kein Haus blieb erhalten, viele Einwohner verließen ihre Stadt. Ein Ortsbesuch.

Schiffswrack vor Biloxi

Die Überreste eines früheren Casinos in Biloxi – Archivbild aus dem Jahr 2005. Foto: ap

BILOXI taz | „100 Jahre Geschichte. Einfach so weg!“ Bryan Keenon betreibt in Biloxi den ‚Beachview Wine & Liquor Shop‘. An seinen neuen Laden hat sich Keenon noch immer nicht gewöhnen können. „Früher war der ganze Strand mit diesen sympathischen Häusern der Antebellum–Ära gesäumt“, sagt der Schnapshändler. Es waren die typisch klassizistischen Holzgebäude im US-Bundesstaat Mississippi, mit klassischen Elementen wie Säulen oder Giebeldreiecken verziert, zwischen 1800 und 1900 erbaut. Doch dann kam Hurrikan „Katrina“ und riss alles mit sich. Keenon sagt: „Eine ganze Ära, einfach so weg!“

Vor zehn Jahren, am 29. August 2005, war Hurrikan „Katrina“ über der Region um New Orleans mit Windgeschwindigkeit von mehr als 200 Stundenkilometern an Land geschlagen. Über neun Meter soll die Flutwelle hoch gewesen sein, in New Orleans brachen die Dämme, mehr als 80 Prozent der Stadt wurden überflutet. Wer konnte, rettete sich dort in das Sportstadion Superdome, aus dem dann die Reporter ihre Berichte in die Welt absetzten.

Nach Biloxi, anderthalb Autostunden von New Orleans entfernt, kamen die Reporter erst Tage später. Die 50.000-Einwohner-Stadt lag im Zentrum von „Katrinas“ Energie, selbst kompakte Betonbauten schob der Hurrikan vor sich her. Kein einziges Haus blieb erhalten, offiziell registrierten die Behörden allein in Biloxi knapp 20.000 vernichtete Gebäude. Mississippis damaliger Gouverneur Haley Barbour erklärte nach der Besichtigung des Katastrophengebiets: „Biloxi ist nicht zerstört. Biloxi existiert nicht mehr.“

Ganz so ist es nicht gekommen. Keenons Schnapsladen ist heute in einem kilometerlangen Einkaufszentrum aus Beton auf dem Eisenhower Drive einquartiert – zwischen „Sallys Beauty Supply“ und dem Billig-Gemischtwarenladen „Dollar Tree“. Die Geschäfte laufen „ganz okay“, sagt der Spirituosen-Fachmann, die Touristen kommen wieder nach Biloxi, „und Touristen haben immer Durst.“ Die ersten Jahre nach „Katrina“ seien hart gewesen. „Statt Hotels nur Trümmer, da kommt doch höchstens der Katastrophentourist“, sagt Keenon, der demnächst 60 wird. Katastrophentouristen trinken nicht so viel, denen sei nicht nach Party zumute.

Casinos auf Schiffen

Biloxi war nach Las Vegas Amerikas zweitgrößter Vergnügungsort. Eigentlich ist im Land des Pokers das Glücksspiel offiziell verboten. In Biloxi machten sich pfiffige Investoren aber eine Gesetzeslücke zunutze. Verboten ist das Glücksspiel auf dem Land, auf festem Boden. Also vertäuten sie zwölf große Schiffsrümpfe an der Küste und bauten ihre Casinos darauf.

Allein 30.000 Spielautomaten soll es in Biloxi gegeben haben, mit „Katrina“ verloren 3.000 Menschen auch ihre Jobs auf den Vergnügungsdecks. „Wir haben alles ganz wunderbar wiederaufgebaut“, findet Dune Vincent, die im Biloxier Ohr-O’Keefe Museum arbeitet. Die Amerikaner lieben es „aufzubauen“, der „American Dream“, der Gründungsmythos der USA, besagt, dass die Amerikaner gegen alle Widrigkeiten ihr Glück machen und Recht und Ordnung schaffen können. Im Museum gibt es gerade die Ausstellung „Katrina +10“, die zeigt, wie als Allererstes nach der Wucht des Hurrikans amerikanische Flaggen auf die Trümmer gepflanzt wurden.

Gezeigt wird auch eine Fotodokumentation, die drei Perspektiven schildert: vorher, nach dem Hurrikan und heute. „New Orleans hat es damals ja längst nicht so schlimm erwischt wie uns“, sagt Dune Vincent, eine drahtige Dame in den 60ern. Aber im Gegensatz zu den Stadtoberen von New Orleans hätten die in Biloxi ganz engagiert die Krise gemeistert.

Vorher- und Nachher-Bilder

„Es war gerade die beste Zeit in unserer über 300-jährigen Geschichte“, sagt A. J. Holloway, der 22 Jahre lang Bürgermeister von Biloxi war. „Die Besucherzahlen waren von einer Million zu Beginn meiner Amtszeit auf bis zu zehn Millionen jährlich geklettert.“ Dutzende Millionen Steuereinnahmen hätte er an der Hand gehabt, um in Bildung, Sicherheit und Kultur zu investieren. Das Wohnhaus von Jeffersen Davis – dem einstigen Präsidenten der Südstaaten, die im Bürgerkrieg aus den USA austreten wollten – wurde zum Museum ausgebaut, in den „Public School Distrikt“ wurde investiert, in Golfplätze und das Baseballstadion. „Wir konnten für unsere Bürger die Steuerlast halbieren und trotzdem eine viel bessere Lebensqualität anbieten“, sagt der Exbürgermeister. Dann kam „Katrina“.

Dune Vincent, Einwohnerin

„Vielleicht schlägt die Natur ja doch zurück.“

Die drei Perspektiven im Museum: Zuerst ist ein blaues Holzhaus mit weißen Säulen und hübschem Balkon zu sehen, dann nur noch verstreute Trümmer, festgebackener Schlamm und ein paar Stelzen, auf dem das blaue Haus einst errichtet wurde. Erst wird ein mit Rundfenstern versehener Backsteinbau im englischen Stil gezeigt, der auf dem „Nachherbild“ einer zerschossenen Ruine gleicht. Gemein ist vielen der Vorher-, Nachher-Bilder meist die dritte Ansicht, die des „Heute“: Zu sehen ist grüne Wiese und manchmal noch der betonierte Zugangsweg von einst.

„Viele Grundstücksbesitzer können die Raten für die Versicherungen nicht aufbringen“, sagt Dune Vincent. Die seien heute sehr teuer, und viele der Hausbesitzer in den ersten Straßen am Strand hätten damals alles verloren. „Ohne Versicherung keine Baufinanzierung“, sagt die Museumsfrau, deshalb würden viele erstklassige Grundstücke zum Verkauf stehen. Aber die Voraussetzungen dafür seien prächtig. Dune Vincent: „Die Infrastruktur, die wir wiederaufgebaut haben, ist heute viel besser als vor ‚Katrina‚.„ In den USA, wo die Nation viel, das Gemeinwohl aber wenig zählt, ist das in der Tat bemerkenswert: Im Land erinnern die Straßen mit ihren vielen Schlaglöchern oft an die DDR. Die Straßen am Golf von Mexiko sind dagegen auf „Westniveau“.

13 Prozent weniger Einwohner als vor dem Hurrikan

Damals, vor zehn Jahren, wurde Biloxi evakuiert, weshalb sich die Opferzahlen im Vergleich zur Zerstörung in Grenzen hielten. 53 Einwohner, die glaubten, so schlimm werde es schon nicht werden, verloren ihr Leben. Er selbst wohnte 30 Meilen im Hinterland der Nachbargemeinde Ocean Springs, sagt Bryan Keenon, „aber trotzdem war auch bei mir alles zerstört“.

Aufgebaut wurde „modern“. Dort, wo an der Uferpromenade neu gebaut wurde, ersetzte Beton das vorher stilprägende Holz. Die meisten der Parzellen sind aber immer noch unbebaut in der ersten, zweiten, dritten und oft auch noch vierten Straße vom Strand entfernt. Auf den Baulücken der Main Street stehen Schilder mit der Aufschrift „For sale by owner“. Keenon sagt: „Nirgendwo gab es schönere Mississippi-Häuser als bei uns in Biloxi.“

Viele Menschen sind nach „Katrina“ weggezogen. Biloxi hat heute noch 13 Prozent weniger Einwohner als vor dem Hurrikan. Die, die geblieben sind, werden zum Jahrestag ins Sportstadion zur Andacht ziehen. Gibt es denn hier, wo die Menschen so getroffen wurden, eine Debatte über die Ursachen? Wärmere Luft kann physikalisch mehr Wasser speichern, und mehr gespeichertes Wasser ist mehr gespeicherte Energie. Deshalb führt die Erderwärmung zu einer Verstärkung der Zerstörungskraft von Extremwettern wie Hurrikanen oder in hiesigen Breiten sogenannter Fünf-b-Wetterlagen, die für die Elbe oder Donaufluten der letzten Jahre verantwortlich waren. Gibt es also an den Stränden des Golfs von Mexiko eine Debatte über den Klimawandel?

„Ich bin Schnapshändler, kein Wissenschaftler“, sagt Whisky-Experte Keenon. Aber er glaube nicht an die These vom Klimawandel. „Diese Zyklen extremer Hurrikane hat es immer gegeben“, sagt er, und jetzt sei eben wieder einer dran. „Wir Menschen sind vor Gott doch viel zu klein, um die Welt zu verändern“.

Die Behörden haben reagiert

„Natürlich gibt es diese Debatte“, sagt Kunstexpertin Vincent. Sie glaube zwar auch nicht, dass „Katrina“ eine Folge der Erderwärmung war. „Aber dass wir Menschen mit unseren Abgasen die Umwelt verändern, das ist erwiesen.“ Vincent hält es deshalb für richtig, dass US-Präsident Barack Obama jetzt „Schadstoffe aus den Kraftwerken und den Autos vermeiden will“, wie Vincent das formuliert. Denn wer weiß schon? Die große Mississippi-Flut im Jahr 2011, die vielen Tornados im Jahr 2013, die verheerende Dürre in Kalifornien: „Vielleicht schlägt die Natur ja doch zurück.“

Jedenfalls haben die Behörden reagiert. Die Regierung von Mississippi hat das Glücksspielgesetz so geändert, dass Casinos nun nicht mehr am Ufer vertäut werden müssen. „Katrina“ hatte die Vergnügungsdampfer oft Hunderte Meter ins Land gerissen, einer war auf das Museum von Dune Vincent gekracht und hatte den Neubau zerstört. Das kann sich so nun nicht mehr wiederholen: Auf einem breiten Küstenstreifen ist das Glücksspiel in Biloxi nun legal. Aus den schwimmenden Kasinos sind vielstöckige, funkelnde Hotelkomplexe geworden.

„Eine Sache, die wir durch ‚Katrina‚ gelernt, haben ist folgende“, sagt A. J. Holloway, der ehemalige Bürgermeister: „Der erkämpfte Wohlstand vor dem Hurrikan zeigt uns das Potenzial unserer Gemeinde. Wir sind bereit, noch ganz andere Dimensionen des Wohlstands zu erreichen.“

Am Dienstag dieser Woche haben die Behörden vorerst eine neue Sturmwarnung ausgegeben – vor Hurrikan „Danny“, der sich aber über den Karibischen Inseln austobte.

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