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ZehlendorfDie Villa zur heilen Welt

Das Nachbarschaftsheim Mittelhof ist das älteste seiner Art in Berlin. Nach dem Krieg gründeten Quäker das Haus, um die Deutschen zur Demokratie zu erziehen.

Die Zehlendorfer Königstraße ist von herbstlich verfärbten Bäumen gesäumt. Die vom Wind heruntergefallenen Blätter bedecken das Kopfsteinpflaster und unterstreichen die Idylle. Hinter einem großen grünen Tor verbirgt sich die herrschaftliche Villa aus der Gründerzeit, die dem Nachbarschaftsheim Mittelhof seit nunmehr 56 Jahren als Sitz dient. Gegründet wurde Mittelhof 1947 als erstes Nachbarschaftsheim Berlins. Der damalige US-Militärgouverneur General Lucius Clay ließ zur offiziellen Eröffnung am 10. September seine Glückwünsche überbringen. Dieses Jahr feiert der Mittelhof sein 60-jähriges Jubiläum und lädt am kommenden Samstag zu einem Tag der offenen Tür ein.

Die Initiative für das Nachbarschaftsheim in der damaligen amerikanischen Besatzungszone ging damals von deutschen und US-amerikanischen Quäkern aus. Nach den Anfangsjahren in einem Gebäude in Nikolassee kauften sie 1950 das Zehlendorfer Villengrundstück gemeinsam mit einem anliegenden Haus von einem Dahlemer Ledergroßhändler für 135.000 DM und schenkten es dem Verein. Bis Ende der 60er-Jahre unterstützten die Quäker den Verein finanziell, kürzten die Förderungen aber ab Anfang der 50er-Jahre drastisch, um den Mittelhof getreu der Devise "Hilfe zur Selbsthilfe" in die Unabhängigkeit entlassen zu können. Die Heimleitung lag daher auch nur bis 1956 in Quäkerhänden.

Den Anstoß für die Gründung hatte die deutsche Quäkerin Hertha Kraus gegeben, eine Jüdin aus Köln, die während der Nazizeit in die USA emigriert war und sich dort als Professorin für soziale Arbeit einen Namen gemacht hatte. In ihrem bereits 1943 verfassten Konzept zum Aufbau von Nachbarschaftsheimen im Nachkriegsdeutschland bezeichnet sie diese Einrichtungen als "Versuch, eine neue Form der Verbindung zueinander zu schaffen".

Suppenküche für Kinder

Tatsächlich verfolgten die Gründer des Heimes zwei Ziele: Hilfe zur Selbsthilfe und Erziehung zur Demokratie nach zwölf Jahren NS-Diktatur. "Dass mehrere und nicht ein Einzelner verantwortlich waren, war neu für uns, kamen wir doch aus einem gesellschaftlichen System, in dem in allen Bereichen das Führerprinzip galt", schrieb Ingeborg Blauert in ihrem Festvortrag zum 40-jährigen Bestehen des Mittelhofs. Blauert nahm 1948 an dem ersten internationalen Studentenseminar der amerikanischen Quäkergruppe im Mittelhof teil und wurde sieben Jahre später erste Heimleiterin eines anderen Nachbarschaftsheims des Vereins in der Kreuzberger Urbanstraße.

Eine Besonderheit des Mittelhofs war, dass das Heim nicht nur die Menschen aus der unmittelbaren Umgebung, sondern aus dem gesamten Stadtgebiet ansprechen wollte. "Die Menschen aus der Nachbarschaft wurden in den ersten Jahren der Nachkriegszeit mit dem Nötigsten versorgt", erzählt die Geschäftsführerin Gisela Hübner. Suppenküchen wurden vor allem für die unterernährten Kinder eingerichtet, Schuh- und Nähwerkstätten ermöglichten den Menschen praktische Selbsthilfe. "Diejenigen aus den anderen Berliner Bezirken kamen dagegen in erster Linie zur körperlichen und seelischen Erholung", fährt Hübner fort. Die Lage der vom Krieg unversehrten Villa mitten im Grünen sei ein wesentlicher Grund dafür gewesen.

"Heute hat jeder Bezirk eine oder mehrere solcher Einrichtungen", so Hübner. Jedes Heim würde sich dementsprechend nach den Bedürfnissen der Bürger aus dem engen Umfeld richten. In Zehlendorf seien das vor allem junge Familien, die einen Hort für ihre Kinder benötigten. "Mittlerweile sind wir daher Träger von mehreren Kindertagesstätten und Jugendeinrichtungen an insgesamt 20 Standorten", erzählt sie. Finanziert würden diese über die Kita- beziehungsweise Schul-Rahmenvereinbarung des Bezirks.

Ansonsten wird der Mittelhof zum großen Teil durch Förderungen von Sonderprojekten, Spenden, Eigenmitteln und Sponsoring, erklärt die Geschäftsführerin. Seit Ende der 90er-Jahre habe man sich stärker auf die Vernetzung mit anderen Trägern und Zentren der verschiedenen Bezirke konzentriert und vom Senat Förderung im Rahmen des Stadtteilzentrumsvertrags bekommen. In den letzten Jahren habe sich das Heim daher zu einem Stadtteilzentrum gemausert, das als regionale Kontaktstelle für Selbsthilfe, Freizeitgestaltung, Gesundheitsprobleme und kulturelle Aktivitäten fungiere. "Regelmäßig treffen sich hier mehr als 100 Gruppen", so Hübner. Das gehe von Computerkursen über Musiktherapie bis zu Theatergruppen.

"Freizeit und Kultur, das waren bei uns damals noch keine Themen", sagt Hildegard Immendorf. Sie war von 1974 bis 1980 beim Mittelhof beschäftigt. Damals sei es vielmehr um politische, städtebauliche und pädagogische Fragen gegangen. Auch die Mitarbeiterstruktur sei ganz anders gewesen. "Teamgeist war das oberste Credo", erzählt sie. Nichts sei ohne gemeinsame Abstimmung unter den damals vier angestellten Sozialarbeitern gelaufen. Chefs habe es nicht gegeben. Im Zuge der antiautoritären Erziehung habe man sich auch am Aufbau von Kinderläden beteiligt. Ein weiterer Schwerpunkt sei der Städtebau. "Die Menschen sollten beispielsweise nicht in Hochhäusern eingepfercht werden", erklärt Immendorf, die inzwischen beim Paritätischen Wohlfahrtsverband arbeitet. Auch die Jugendarbeit in sozialen Brennpunkten habe zu den zentralen Aufgaben des Mittelhofs gehört. Zehlendorf-Süd sei so ein Bezirk gewesen.

Freizeitspaß statt Politik

Aber auch in Kreuzberg wurde gemeinsam mit dem Mehringhof viel getan. "Wir überlegten sogar ernsthaft, ob wir den Mittelhof verkaufen und nach Kreuzberg ziehen sollen", erzählt Immendorf, die studierte Psychologin und Sozialarbeiterin ist. Denn dort hätte man Arbeiterschicht und Migranten besser mit einbeziehen können. "Immerhin konnten wir aber etwas für die türkischen Frauen tun, die in einer Fabrik in Zehlendorf arbeiteten", sagt sie. So habe man jeden Morgen um sechs Uhr den Kindergarten geöffnet, um deren Kinder in Obhut zu nehmen.

"Von der Arbeit mit Migranten ist im Mittelhof heute nichts mehr zu sehen", kritisiert sie. Zwar sei der Ausländeranteil in Zehlendorf verschwindend gering. Aber die Asylbewerber würden ja auch zur Zossener Heiligkreuzkirche gehen, um Kleidung entgegenzunehmen, auch wenn sie nicht in dem Bezirk wohnten. Sie räumt aber ein, dass die Zeiten heute eben anders sind. "Die Migranten haben so viel eigene Strukturen, dass die nicht auf diese Betulichkeiten eingehen", sagt sie.

Was Immendorf aber tatsächlich fehlt, ist das politische Engagement. Der Grundgedanke aus der Gründerzeit des Mittelhofs, demokratisches Denken zu vermitteln, sei in dem Programm des heutigen Stadtteilzentrums nicht mehr erkennbar. "Das ist aber eine Entwicklung, die mit dem allgemeinen Desinteresse für politisches Engagement in der heutigen Gesellschaft zu tun hat", räumt sie ein. Auch der Mehringhof habe diese Veränderung mitgemacht. Aber auch die pädagogische Bewegung erscheint ihr im Gegensatz zu damals als zu schwach. Dabei könne der Mittelhof mit seinem Kinder- und Jugendprogramm wichtige pädagogische Überlegungen fördern.

"Das tun wir auch", entgegnet Geschäftsführerin Hübner. Indem sie die Eltern stärken würden, sich in den Schulen einzubringen, würden sie indirekt auch die Schulstrukturen verändern. "Wir stehen damit noch am Anfang, aber das Engagement ist durchaus da", sagt sie. Auch für die Arbeit mit Migranten sei bereits ein Projekt in Planung. Unter dem Titel "Fernreisen in die Nachbarschaft" werde man ab den Herbstferien Migrantenkinder aus Schöneberg Nord in die zum Mittelhof gehörende Villa Folke Bernadott in Lichterfelde-Ost einladen. Dort sollen Eltern und Kinder gemeinsam Barfuß- und Sinneswege gemäß der Kneipp-Medizin nachbauen und sich so über kulturelle Grenzen hinweg kennen lernen.

Für Gisela Hübner gibt es mit dem 60-jährigen Bestehen des Mittelhofs also einiges zu feiern. Nicht zuletzt das Mehrgenerationenhaus, das in naher Zukunft in Zehlendorf-Süd eröffnet wird. Dort sollen Kinder und Jugendliche mit Senioren zusammentreffen. Was dort genau passieren soll, ist noch unklar - das Programm sollen die Besucher selbst bestimmen. Auf jeden Fall geht es darum, den vielen Einzelkindern oder Kindern von Alleinerziehenden einen familiären Ort zu bieten - so wie früher nach dem Krieg den vielen Kriegswaisen und vaterlosen Kindern. "In diesem Sinne", sagt Hübner, "greifen wir auf die Gründungszeit zurück."

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