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Zaghafte ErnährungspolitikÖzdemirs Schonkost

Manfred Kriener
Kommentar von Manfred Kriener

Cem Özdemir „diskriminiert Fleisch und Milch“ nur vorsichtig. Seine Ernährungspolitik muss jetzt ihren Namen verdienen, auch gegen eine starke Lobby.

Straffrei containern und beim Einkauf auch noch steuerfrei? Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte Foto: Christiane Raatz/dpa

F ast geräuschlos und stets vorsichtig speist Landwirtschafts- und Ernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) seine politischen Initiativen in die Ernährungsdebatte ein. Das „Containern“, also das Zurückholen und Verwerten weggeworfener Lebensmittel aus dem großen Müllhaufen des Handels, will er straffrei stellen. Die Polizei solle sich doch lieber um richtige Ver­bre­che­r*in­nen kümmern, meint der Minister.

Und wenig später, nachdem Spanien die Mehrwertsteuer auf alle Grundnahrungsmittel gekappt hat, erneuert Özdemir die Forderung, künftig Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte von der Steuer zu befreien. Der Vorstoß passt perfekt zu den gestiegenen Lebensmittelpreisen und zur allgemeinen Inflationsjeremiade.

Der zweite Teil der Botschaft fehlt allerdings: Wenn Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte billiger werden, sollten sich im Gegenzug Fleisch und Milchprodukte verteuern. Im aktuellen Krisentaumel gibt es allerdings mit Ausnahme der Veggie-Hardcore-Initiativen niemanden, der es wagen würde, solche Preisaufschläge auch nur zu thematisieren. Billigfleisch ist gerade jetzt sakrosankt, auch für die Grünen.

Mit seiner Container-Initiative hat der Minister dagegen kaum Widerspruch zu befürchten. Es besteht Einigkeit, dass zu viele Lebensmittel weggeworfen werden. Lebensmittelretter, die in die Container krabbeln, mögen zwar schlecht riechen, haben aber die Sympathien der Gesellschaft auf ihrer Seite. Zumal der allgemeine Irrsinn, Lebensmittel mit angestoßenen Verpackungen, kritischem Haltbarkeitsdatum oder kleinen optischen Schönheitsfehlern zu vernichten, auch bei denen für Kopfschütteln sorgt, die selbst natürlich nur makellose Ware kaufen.

Taube Ohren beim Bauernverband

Mülltaucher werden immer wieder kriminalisiert. Diebstahl, Bandendiebstahl, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Einbruch – die Liste ist lang. Versuche, die weggeworfenen Lebensmittel mithilfe der juristischen Vokabel „Eigentumsaufgabe“ als „herrenlos“ zu deklarieren, sind oft vergeblich. Höchste Zeit also, das Containern zu legalisieren und Kooperationen zwischen Handel und Mülltauchern, wie es sie in einigen Städten schon gibt, zu forcieren.

Die Forderung nach einer stärker pflanzenbasierten Nahrung und einer Mehrwertsteuer-Absenkung für Obst und Gemüse dagegen hat reflexartig die Sprechautomaten des Bauernverbands und der Ernährungsindustrie aktiviert. Schon bei der Verabschiedung der Eckpunkte einer eher harmlosen und sehr allgemein formulierten „neuen Ernährungsstrategie für Deutschland“ aus dem Özdemir-Ministerium gifteten die üblichen Verdächtigen.

Der Bauernverband warnte vor einer „Diskriminierung von Fleisch und Milch“ – und keiner hat gelacht. Der Koalitionspartner FDP meinte einen erhobenen grünen Zeigefinger zu erkennen. Die Union polterte, die Ernährung tauge nicht als „Schalthebel zum Umbau der Gesellschaft“. Özdemir selbst betont immer wieder ganz brav, er wolle selbstverständlich niemandem vorschreiben, was er zu essen habe.

Das erstaunliche Erregungsniveau, das schon hochvernünftige ernährungspolitische Minimalvorstöße provozieren, lässt Zweifel aufkommen, ob sich in diesem Land jemals eine Ernährungspolitik etablieren kann, die diesen Namen verdient. Bisher gibt es sie nicht. Gesunde und nachhaltige Ernährung wurde in Deutschland immer auf das Einkaufsverhalten des Einzelnen abgewälzt.

Mehr Gemüse wagen!

Der soll, umstellt von Werbelügen, dubiosen Qualitätssiegeln und dem Chemiechinesisch im Kleingedruckten der Verpackungen, in Selbstverantwortung seinen Magen füllen. Das zuständige Ressort hieß denn auch lange ausschließlich Landwirtschaftsministerium und wurde mit Politikern bestückt, die auf der Grünen Woche Bockwurst mit Schnaps kombinierten und Herrenwitze in die Runde warfen à la „Oldenburger Butter / hilft dir auf die Mutter“.

Als die Grünen es mit einem bescheidenen Veggieday versuchten, fiel die Meute derjenigen über sie her, die den Nackensteak-Esser als Rückgrat unserer Gesellschaft betrachten. Das zeigt aber bis heute Wirkung. Angst essen Seele auf. Inzwischen hat zwar eine selbstbewusste Veggiebewegung dafür gesorgt, dass sich die Speisekarte auch im letzten bayerischen Dorfgasthaus deutlich geändert hat.

Doch die Ernährungslage in unserem Land ist nach wie vor verheerend: Zwei von drei Männern und jedes sechste Kind sind stark übergewichtig. Die Epidemie von Fastfood, Zuckerbrause und Industriefraß ist ungebrochen. Immer weniger Menschen kochen selbst, Lebensmittelkompetenz und -wissen verdampfen in der Mikrowelle. Es geht um Gesundheit, um Lebenschancen, um 12 Millionen adipöse Menschen, um Genuss und Freude am Essen, um Umwelt, Klima, Tierwohl.

Doch im Gegensatz zu vielen anderen Ländern gibt es bei uns keinen für alle Lebensmittel verbindlichen Nutri-Score (Lebensmittelampel), keine Lenkung durch Steuern, kein Klima- und kein echtes Tierwohl-Label, kein gesundes Gratisessen in Schulen und Kitas, keine Werbeverbote für offensichtlich Ungesundes. Und Adipositas ist nach wie vor nicht als chronische Krankheit anerkannt, sondern wird als individuelles Problem etikettiert.

Das Veggieday-Trauma der Grünen

Es gäbe also viel zu tun: Die Vorschläge der Wissenschaft aus dem Beirat des Ministeriums liegen seit Jahren auf dem Tisch. Die Gesellschaft ist bereit für Veränderungen. Özdemir hat recht, wenn er betont, dass eine breite Mehrheit hinter seiner Ernährungsstrategie stehe. Leider ist diese entsprechend defensiv, in vielem noch vage und eher auf 2030 ausgerichtet als auf heute und morgen.

Die Grünen müssen ihr Veggieday-Trauma endlich überwinden. Sie dürfen sich von der Lobby aus Industrie und Bauernverband nicht länger einschüchtern lassen. Die Zeiten von Bockwurst und Doppelkorn sind vorbei. Jetzt braucht es Mut und Aufbruchstimmung, damit Besseres auf den Tisch kommt.

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Manfred Kriener
Manfred Kriener, Jahrgang 1953, ist Umweltjournalist und Autor in Berlin. Themenschwerpunkte: Klima, Umwelt, Landwirtschaft sowie Essen & Trinken. Kriener war elf Jahre lang taz-Ökologieredakteur, danach Gründungschefredakteur des Slow-Food-Magazins und des Umweltmagazins zeozwei.. Zuletzt erschienen: "Leckerland ist abgebrannt - Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur". Das Buch schaffte es in die Spiegel-Bestsellerliste und wurde von Umweltministerin Svenja Schulze in der taz vorgestellt. Kriener arbeitet im Journalistenbüro www.textetage.com in Kreuzberg.
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5 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • ,,Sie dürfen sich von der Lobby aus Industrie und Bauernverband nicht länger einschüchtern lassen."

    Oftmals ist sie gar nicht als Lobbyisten zu erkennen. Ein Beispiel:

    Im Heft ,,Bildung aktuell. Wir machen Schule" des Philologenverbandes vom September 2022 empfiehlt der Journalist (?!) und Pressesprecher von ,,ima-agrar", Bernd Schwintowski, Lehr- und Lernmaterialien des Bauernverbandes.

    Bernd Schwintowski schreibt:

    ,,Als klar war, dass Ernteausfälle infolge des Krieges in der Ukraine zu einer Hungersnot auf dem afrikanischen Kontinent führen würde, plädierte die deutsche Landwirtschaft für eine Ausweitung der Ackerflächen in Deutschland. Damit wollte man einen Beitrag zur Kompensation fehlender Ernteerträge und gegen die drohende Hungersnot leisten. Hierzu sollten für den Artenschutz brachliegende Flächen zum Anbau von Getreide genutzt werden. Doch gerade jungen Menschen, die sich für Artenvielfalt und Klimaschutz begeistern, war dies nur schwer zu vermitteln. Dort wo Kenntnisse fehlen, welchen Beitrag die Landwirtschaft zur Ernährungssicherheit nicht nur in Deutschland leistet, werden deren Mehrleistungen nur allzu schnell als Profitmaximierung abgetan. Wer hingegen weiß, was di eBauernfamilien schonlange für den Erhalt der Artenvielfalt tun, kann ihr Engagement (besonders in Krisenzeiten) realistischer einschätzen." (Ausgabe 5/2022, Seite 20)

    Zur IMA: ,,Heute sind alle Landesbauernverbände sowie der Deutsche Bauernverband e.V. Vereinsmitglieder" der IMA www.ima-agrar.de/verein/informationen;

    IMA-Vorsitzender ist Joachim Ruckwied: ,,An die Spitze des Deutschen Bauernverbandes e.V. wurde Joachim Rukwied wiedergewählt. Der i.m.a-Vorsitzende erhielt 373 der 457 abgegebenen Stimmen.'', www.ima-agrar.de/v...-im-amt-bestaetigt

    Joachim Rukwied bekam 2017 bereits den ,,Dinosaurier des Jahres'': de.wikipedia.org/wiki/Joachim_Rukwied

  • Vielen Dank Herr Kriener für diese deutliche Klarstellung! Cem kann froh sein, dass Sie so ein höflicher Mensch sind. Man könnte auch behaupten, dass Özdemir ein zahnloser Tiger und in seinem Ministerium ebenso ehrgeizig und leidenschaftlich ist wie Lambrecht es in der Verteidigung war. Er sollte mal Nachhilfeunterricht bei Renate Künast nehmen! Beim Containern bleiben Özdemir und Buschmann übrigens völlig unverbindlich. Statt selbst ein Gesetz auf Bundesebene anzugehen, geben sie den Bundesländern wohlfeile Ratschläge. Das nenne ich mal Einsatz! Um es in den Worten von Greta zu sagen: Özdemir produziert eine Menge Blablabla. Ich sehe bei ihm keinen ernsthaften Gestaltungswillen für grundlegende Veränderungen. Seinen Spruch „Ich möchte den Leuten nicht vorschreiben, was sie essen sollen.“ könnte man auch so übersetzen: „Hallo Leute, ich bin der kleine Cem und esse kein Fleisch. Aber keine Angst, Ihr könnt alle so weiter machen wie Ihr wollt. Ich wünsche mir nur eine Welt, in der alle glücklich und gesund sind, die Bürger und Bürgerinnen, die großen Bauern und die kleinen Biobäuerinnen, die Pflanzenschutzhersteller, die Fleischexporteure, die Soja- und Gülleimporteure, die rumänischen Niedriglohnschlachter, die Veterinäre, die immer wegschauen, Herr Tönnies und die süßen Ferkelchen. Den Letzteren kleben wir einfach einen bunten Zettel auf das tote Fleisch, dann wissen alle, wie wohl sie sich bei uns in der Menschenwelt gefühlt haben. Ist das nicht toll? Und nun Ihr lieben Verbraucherinnen und Verbraucher liegt es bei Euch, mein schönes Bullerbü wahr zu machen. Dann werdet Ihr auch wieder gesund und die CO2- und sonstigen Emissionen fallen von ganz alleine. Und wenn Ihr nicht mitspielt, gehe ich eben nach Baden-Württemberg und beerbe Winfried Kretschmann. Ich kann nämlich noch viel mehr als nur Landwirtschaftsminister!“

  • Ich verstehe das Halbgare immer nicht. Fleisch und Milch sind böse, weil wir die Tiere ausnutzen? Oder wegen der Ökologie? Von Natur aus sind Menschen keine Pflanzenfresser. Natürlich kann man sich weiterentwickeln. In der Evolution. Das geht aber nicht in Jahren... Und wenn wir die Natur mit einbeziehen. Eine Maispflanze ist genauso ein Lebewesen wie ein Ferkel. Das kann kein Grund für eine Umstellung sein. Aber nicht falsch verstehen. Ich bin für Bio und glückliches Fleisch zu seinem Preis. Aber zumindest Lebensmittel müssen für alle verfügbar sein. Nicht nur für reiche Prenzlauer Berg Grüne. Das ist dann nämlich kein Fortschritt.

  • "Fleisch und Milchprodukte verteuern."



    Welche Partei hat den Mut dies zu tun, wohl wissend dass die Rache der Wähler an der Urne folgt? Keine, den jeder liebt seinen Posten im Bundestag. Ergo: So kommt es nicht.

  • Also wenn es um Genuss und Freude am Essen geht, wie der Autor propagiert, dann gehört da für mich ganz klar auch Fleisch, Fisch und Milchprodukte dazu.