Youtuber*innen fragen Martin Schulz: Geht doch, Martin!
Beim Format #DeineWahl macht Martin Schulz eine ungewohnt gute Figur. Das liegt auch an den vier fragenden Youtuber*innen.
„Was ist der größte Mist, den Sie jemals gebaut haben?“, fragt die 26-jährige Youtuberin Nihan den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Der grinst verlegen, denkt kurz nach und antwortet: Einmal habe er „in einer durchzechten Nacht“ Waschpulver in das Schwimmbad gekippt – und kassiert einen von mehreren Lachern in einem etwas anderen medialen Auftritt.
Wie vor knapp drei Wochen bereits Angela Merkel stellte sich nun auch Martin Schulz beim Youtube-Format #DeineWahl den Fragen der jungen Netzcommunity. Zuvor hatten die Youtuber*innen Nihan, ItsColeslaw, MrWissen2go und Marcel Scorpion Fragen ihrer Follower gesammelt. In etwa 60 Minuten handelten sie dann eine breite Themensammlung von Integrations- bis Bildungspolitik, Tierschutz und soziale Ungleichheit ab. Betont wurde dabei – in Bezug auf ihr Zielpublikum wenig überraschend – das Thema Digitalisierung.
Die Fragerunde war lebendig, sie war wohlstrukturiert und deshalb angenehm genießbar – manch eine*r, der/die das farblose TV-Duell über sich ergehen ließ, mag denken: Der Schlagabtausch zwischen Merkel und Schulz wäre bei den Youtuber*innen in besseren Händen gewesen.
Genießbar heißt dabei nicht notwendig oberflächlich. In jeden der vier Interviewblöcke führt der Youtuber LeFloid, der selbst schon Merkel interviewte, mit Hintergrundwissen ein: Zehn Millionen Menschen lebten derzeit ohne deutsche Staatsbürgerschaft in Deutschland, 46 Prozent davon schon länger als zehn Jahre. Sehr persönlich erzählt die Youtuberin Nihan daraufhin von ihrer Großmutter, die viele Jahre nach ihrer Immigration kein Deutsch spreche und fragt: „Wie kann man Parallelgesellschaften verhindern?“ Schulz' Antwort: mit ausfinanzierter Bildung, die nicht segregiert.
Den Grundsatzthemen weicht Schulz aus
Dass „Ausländerfeindlichkeit“ gestiegen sei, bestätigt Schulz den Interviewenden – dagegenhalten solle man mit positiven Identifikationsangeboten, Beispiele liefert er gleich mit: Jerome Boateng und Mesut Özil. Als Nihan von eigenen Erfahrungen mit Rassismus erzählt, antwortet Schulz wohlgesinnt, doch etwas tolpatschig: „Wer so aussieht wie Sie, ist eine Bereicherung für unser Land“.
Auch bei den Themenblöcken Bildung und Digitalisierung bevorzugt Schulz klare und leichte Antworten. Vor allem eine: Mehr Investitionen. Damit, einerseits, die „Möglichkeiten der Zukunft“ genutzt würden und Digitalisierung nicht als „Gefahrendebatte“ geführt werde. Andererseits, damit Schulen modernisiert und bundesweit auf ein gemeinsames Niveau gehievt werden könnten.
Als der Youtuber MrWissen2go Schulz mit der Frage nach dem Kern der Sozialdemokratie, den Nachwirkungen der Agenda 2010 und dem Thema soziale Gerechtigkeit konfrontiert, weicht dieser der Geschichtsaufarbeitung jedoch aus. Von der Grundsatzfrage leitet er geschickt weg, indem er einmal mehr über die besonders schlechten Arbeitsbedingungen von Frauen in Pflegeberufen spricht und eine „Mindestausbildungsvergütung“ für Auszubildende fordert.
Vieles anders als beim vergangenen TV-Duell
Was junge Zuschauer*innen auch interessieren dürfte: Schulz kündigt an, einer eventuellen parlamentarischen Abstimmung über die Legalisierung von Marihuana als Kanzler nicht im Weg zu stehen.
Auffällig ist während der Sendung, dass der sozialdemokratische Kandidat den Fragen der Youtuber*innen ungewohnt erfrischend, ja locker, begegnet. Das lässt ihn authentischer wirken als sonst. Auch die Anekdoten, mit denen er seine Antworten oft beginnt, fühlen sich weniger bemüht an. Wenn er einmal keine oder zumindest keine zu Ende gedachte Antwort weiß, macht er keinen Hehl daraus: „Ich muss zugeben, ich bin da nicht so drin“, antwortet er auf die Frage von Marcel Scorpion, wie denn die deutsche Gaming-Industrie gefördert werden könnte. Und auf „Spielen Sie selbst?“, antwortet er „Nein, ich lese, ich bin Buchhändler“.
Vieles also anders als beim vergangenen TV-Duell gegen Angela Merkel, wo Schulz angespannt, in Strecken unsicher, manchmal gar geistesabwesend wirkte.
Schulz gewinnt das indirekte Onlineduell
Schließlich ist es wohl auch Schulz‘ Biographie, über die er offen spricht und die ihm eine Nähe zu jungen Menschen ermöglicht, wie sie Merkel vor knapp drei Wochen nicht möglich war. Charakteristisches Moment: Was machen, wenn Jugendliche den Mut verlieren? Eine perfekte Vorlage für den Sozialdemokraten, der einst unter Alkoholsucht litt: „Ich kenne das Leben von ganz unten“, erzählt er und legt nach: „Steh zu dir selbst. Gib nicht auf!“
Mit Sicherheit wird dieser durch und durch souveräne Youtube-Auftritt Schulz' Umfragewerte nicht radikal in die Höhe treiben. Das TV-Duell mag er verbockt haben. Aber besonders mithilfe seiner persönlichen Antworten gewinnt er, zumindest, das indirekte Onlineduell gegen Angela Merkel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung