Yael Bartanas Kunstaktion in Köln: Holocaust für alle
Vertriebene Schlesier, bedrohte Migranten: Die Aktion „Zwei Minuten Stillstand“ verwandelt Holocaust-Gedenken in ein europäisches Wohlfühlprojekt.
Zwei Minuten lang heult die Sirene, und ebenso lange kommt das öffentliche Leben vollständig zum Erliegen. Autofahrer halten mitten auf der Straße an und verlassen ihre Fahrzeuge, Fußgänger bleiben stehen, wo sie sich gerade befinden. Das ganze Land hält inne für einen Moment der Introspektion und der Erinnerung an die Toten.
Seit 1959 wird in Israel der Jom HaSchoah, der Holocaust-Gedenktag, begangen, der dem Modell des Gedenktags für die gefallenen Soldaten folgt. Im Zentrum beider Gedenktage, die seitens der arabischen und der jüdisch-orthodoxen Israelis nicht unumstritten sind, steht ein bewegender Augenblick, der persönliche und kollektive Gefühle aufruft.
Yael Bartana will diese Zeremonie nun an einem ganz anderen Ort stattfinden lassen. „Zwei Minuten Stillstand“ nennt sich das Projekt der international renommierten, aus Israel stammenden Künstlerin im Rahmen der Impulse Theater Biennale. Am 28. Juni sollen die Bewohner Kölns zwei Minuten lang stillstehen, wenn die Sirenen heulen.
Die Organisatoren verstehen das Projekt als „politischen Akt, als soziale Skulptur und kollektive Performance im öffentlichen Raum der Stadt Köln“, das die Bevölkerung dazu aufrufen soll, „die Gegenwart zu reflektieren, über die Geschichte nachzudenken und über unsere Zukunft“. Bartana will in Köln einen neuen Gedenktag etablieren, der dem israelischen Schoah-Gedenktag gleicht, aber von etwas anderem handelt.
Globale Kettenreaktionen
Nationalsozialismus und Holocaust hätten „langfristige globale Kettenreaktionen bis in unsere Gegenwart hinein“ erzeugt, heißt es in der Ankündigung der Aktion. Die Kölner sollen in einem Holocaustgedenkritual nun der Nakba gedenken, der Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus den von der jüdischen Hagana eroberten Gebieten, als die arabischen Staaten 1948 angriffen, um einen jüdischen Staat zu verhindern. Gedacht werden soll zugleich, so will es die Künstlerin, der Opfer des NSU und der nach 1945 vertriebenen Schlesier.
Es ist nicht das erste Mal, dass die 43-jährige Künstlerin spezifische kulturelle Traditionen und Ereignisse aus ihrem Kontext reißt und sie in einen neuen hineinstellt. 2001 hatte Bartana in einer Videoarbeit Aufnahmen vom israelischen Holocaust-Gedenktag noch für sich selbst sprechen lassen.
Doch seit einigen Jahren hat sie ihre dokumentarischen Arbeiten zugunsten inszenierter Filme aufgegeben. Seitdem ist sie zum Inbegriff der „kritischen“ israelischen Künstlerin geworden und hat bei zahlreichen bedeutenden Großereignissen des internationalen Kunstbetriebs ihre Arbeiten gezeigt.
Berühmt geworden ist Bartana mit der Film-Trilogie „… and Europe will be stunned“, auf Deutsch: „… und Europa wird verblüfft sein“. Deren erster Teil trägt den polnischen Titel „Mary Koszmary“. Er wurde 2011 im polnischen Pavillon der Biennale in Venedig gezeigt.
Juden zurück nach Polen
Im Film ist ein junger Mann in einer an die kommunistischen Pioniere erinnernden Uniform zu sehen. Er hält in einem leeren Warschauer Stadion eine dramatische Rede. Darin ruft er 3,3 Millionen Juden auf, nach Polen zurückzukehren. Die Zahl bezieht sich auf die ungefähr 3,3 Millionen Juden, die vor 1939 in Polen gelebt haben, wie auf die ungefähr 3 Millionen jüdischen Polen, die vom nationalsozialistischen Deutschland ermordet wurden.
Polen, so scheint es, war vor 1939 ein multikulturelles Himmelreich, dann ist daraus ein trauriger, degenerierter, erst kommunistischer, dann nationalistischer, antisemitischer, kulturell homogener Ort geworden.
„Mary Koszmary“ war ein gewagter Film, der sowohl das polnische als auch das israelische Publikum provozierte. Er nahm auf die erst zögerlich beginnende Auseinandersetzung der polnischen Gesellschaft mit ihrem eingeübten Geschichtsbild Bezug, das auf einer Konkurrenz der Opfer beruhte und eigenen Antisemitismus historisch ausblendete.
In Israel korrespondierte der Film mit dem Ansatz der „Neuen Historiker“, die seit Ende der achtziger Jahre die offizielle zionistische Geschichtsschreibung einer kritischen Revision unterzogen.
Die Avantgarde der Rückkehr
Parallel zum Film „Mary Koszmary“, der die so propagandistische wie revolutionäre Filmästhetik Leni Riefenstahls zitiert, hat Yael Bartana eine fiktive Bewegung namens Jewish Renaissance Movement (JRMiP) in Poland gegründet, die sich als Avantgarde der Rückkehr der Juden nach Polen präsentiert. Es ist klar, woher die Rückkehrer kommen sollen: aus Israel.
Lasst uns, so lautet der Vorschlag Bartanas, die Probleme der europäischen Vergangenheit und der nahöstlichen Gegenwart lösen, indem wir die Waage zum Ausgleich bringen: Drei Millionen Lebende für drei Millionen Tote. „Was ist absurder, die Rückkehr nach Polen oder die Rückkehr nach Palästina?“, fragte Bartana rhetorisch in einem Interview. Die Frage ist nur berechtigt, wenn man den Zionismus als abstrakte Idee missversteht. Sie hat keinen Sinn, wenn man seine konkrete Geschichte betrachtet.
Im zweiten Teil von Bartanas Trilogie, „Mur i wieza“ („Mauer und Turm“) antwortet eine Gruppe israelischer Jugendlicher auf den Ruf des Führers der JRMiP. In ihren Pionieruniformen errichten sie im Zentrum Warschaus eine Siedlung gemäß dem von den Zionisten entwickelten Modell von „Mauer und Turm“. Altes osmanisches Recht nutzend, schufen die Zionisten Fakten, indem sie ein Netzwerk von Ansiedlungen im britischen Mandatsgebiet Palästina bauten.
Die meisten der zionistischen Siedler waren junge Juden aus Europa, die nach 1933, nach Erlass der Nürnberger Gesetze und nach dem Überfall auf Polen nach Palästina flüchteten. Die Siedlung der JRMiP, deren Errichtung Bartanas Film zeigt, liegt gegenüber dem Denkmal für die Aufständischen im Warschauer Ghetto.
„Sie kämpften für ein sozialistisches Polen“
Anders als diese plumpe Parallelisierung suggeriert, hat die Idee der „Rückkehr“ der Juden nach Polen einen konkreten geschichtlichen Resonanzboden: und zwar in der Person von Marek Edelman, der vor dem Zweiten Weltkrieg Aktivist des sozialdemokratischen „Algemeynen Yidishen Arbeter Bunds in Lite, Poyln un Rusland“, kurz Bund, war.
Edelman war auch einer der Anführer des Warschauer Ghetto-Aufstands von 1943 und später am Warschauer Aufstand von 1944 beteiligt. Nach dem Krieg blieb er in Polen und arbeitete als Kardiologe. Er schrieb: „Weder warteten die Bundisten auf den Messias noch wollten sie nach Palästina gehen. Sie kämpften für ein sozialistisches Polen, in dem jede Nationalität kulturelle Autonomie erhalten würde.“
Erwähnt wird er zwar nirgends im Werk Bartanas, und doch ist Marek Edelman die heimliche Blaupause der Künstlerin. Von heute aus betrachtet sieht Edelmans jüdisch-sozialdemokratische Vision zweifellos progressiver und einleuchtender aus als die Idee, nach zweitausend Jahren Israel als Staat wiederzuerrichten. Bartana stellt zur Debatte, ob eine diasporische jüdische Existenz heute möglicherweise die bessere Lebensform ist.
Trotzdem sollte man wissen, dass die Position der Bundisten, die Bartana als geheime Referenz dient, historisch irrelevant geworden war. Während die Zionisten das moderne Israel vorbereiteten, wurden viele der Bundisten in den Vernichtungslagern der Nazis ermordet, starben als Rotarmisten oder wurden nach dem Krieg in den Gulag geschickt.
Der Zionismus ist Ergebnis einer „Sehnsucht“
Im Katalog zu Bartanas Trilogie mit dem Titel „A Cook Book for Political Imagination“ wird die fundierte Kritik am Zionismus der Neuen Historiker auf eine merkwürdige Formel geschrumpft: Der Zionismus, so ist dort in immer neuen Variationen zu lesen, sei Ergebnis einer „Sehnsucht“, eines „Verlangens“ nach Rückkehr, nach einem Zuhause gewesen.
Aber steht im Zentrum des jüdischen nationalen Projekts tatsächlich eine „Sehnsucht nach Palästina“, oder war es nicht vielmehr ein pragmatisches politisches Projekt, das aus guten Gründen die Idee entwickelte, nur in einem eigenen Land seien die Juden vor dem sich radikalisierenden Antisemitismus in Europa sicher?
Auch Bartanas aktuelles Projekt in Köln nimmt es mit geschichtlichen und sonstigen Zusammenhängen nicht so genau. „Zwei Minuten Stillstand“ fordere uns dazu auf, darüber nachzudenken, „was es heute bedeutet, deutsch zu sein, als Immigrant in Deutschland zu leben, welche Konsequenzen der Holocaust ebenso wie seine Instrumentalisierung heute haben“.
In Bartanas Arbeiten sind alle modernistischen Ideologien, Projekte und deren Ästhetik im Grunde dasselbe und Anlass zur Ironisierung. Deswegen kann ihr Werk die historisch präzedenzlose Transformation von Millionen von Menschen in Nichtmenschen und ihre anschließende Vernichtung nicht begreifen.
Die Verallgemeinerung des Schoah-Gedenkrituals aus dem Land, das die Zionisten gegründet haben, folgt den Publikumsbedürfnissen: Die Geschichte Europas soll reguliert, die Schuld überwunden werden. So tritt an die Stelle der Erinnerung an den Holocaust als Genozid an den Juden als Juden eine abstrakt-universelle Erinnerung an alle Opfer kollektiver Gewalt.
„Zwei Minuten Stillstand“ am 28. Juni um 11 Uhr in Köln Roncalliplatz und in Köln-Mülheim/Keupstr. Um 18 Uhr Diskussion mit Yael Bartana in der Kölner Studiobühne.
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