Wolfgang Seibert über linken Antisemitismus: „Ich bin immer noch militant“
Wolfgang Seibert, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, verließ die Linken vor 30 Jahren – auch wegen ihres Antisemitismus. Jetzt ist er wieder da.
taz: Herr Seibert, Sie waren aktiver Linker, bevor Ihnen deren Antisemitismus zu viel wurde. Haben Sie sich da verraten gefühlt?
Wolfgang Seibert: Ich würde eher sagen: enttäuscht über diesen plötzlichen Bruch innerhalb der Linken gegenüber Israel. Im Sechstagekrieg von 1967 hatte die Linke Israel noch ganz massiv unterstützt, und danach war auf einmal alles anders. Das war schon ziemlich frustrierend.
Kam dieser Bruch überraschend?
Ja. Bis dato dachte man: Israel hat sozialistische Tendenzen – im Kibbuz etwa – und das haben wir alle idealisiert. Später hat man bemerkt, dass die Parallelen doch nicht so stark waren. Der eigentliche Grund für den Bruch war aber, dass sich die Linke nach 1968 völlig veränderte. Es entstanden viele Splittergruppen, die Antiimperialismus-Theorie kam dazu. Da hieß es dann, alle Befreiungsbewegungen seien gut – egal, welche Tendenz sie hatten. Diese Haltung pflegen viele heute noch: Die PLO vertritt in vielen Dingen nationalistische und klerikal-faschistische Tendenzen. Aber sie gilt als „gut“, weil sie angeblich für die Befreiung der Menschen kämpft. Das ist mir zu undifferenziert. Wir hatten da andere Ansichten.
Wer ist „wir“?
Politisch groß geworden bin ich im Sozialistischen Schülerbund und im Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Da herrschte ein unabhängiges Denken, da war nicht diese Gebundenheit an eine Partei. Anfang der 1970er-Jahre sind dann Gurus gekommen, die mir vorschrieben, was ich denken sollte.
66, wuchs bei seinen Großeltern auf, weil seine Eltern, die sich im Frankfurter Displaced-Persons-Camp kennengelernt hatten, studieren beziehungsweise arbeiten mussten. Sein Vater war per Kindertransport nach England geschickt worden, die Mutter - Ukrainerin - von Nazis verschleppt.
Die Familie eines hilfsbereiten SS-Mannes stellte sie aber als Kindermädchen an und versorgte sie nach dem Krieg mit Papieren.
Seibert hat bei der Bonner Rundschau volontiert und war dann - bis 2001 - freier Journalist unter anderem für die Frankfurter Rundschau sowie israelische und US-amerikanische Medien. Zentrales Thema war der Faschismus. Seit 2003 ist er Vorstand der Jüdischen Gemeinde Pinneberg.
Wer waren die Gurus?
In Frankfurt gab es einen relativ starken Kommunistischen Bund, und da waren immer irgendwelche Vordenker. Dann gab es Debatten bei Vorbereitungen von Demonstrationen, die sich gar nicht auf die Demo bezogen, sondern auf ideologische Unterschiede der verschiedenen Gruppen. Und Leute, die ich vorher als unabhängig kennengelernt hatte, waren plötzlich in einer Partei mit strenger Parteidisziplin.
Ein Beispiel?
Bei Freunden von mir, die aus einer Arbeiterfamilie stammten, die sehr unabhängig dachte, stand auf einmal eine Stalin-Büste auf dem Tisch. Und die Schränke standen voll mit Stalins gesammelten Werken.
Wussten sie nicht, was Stalin tat?
Doch, aber sie sagten, das passiere zum Wohl der Menschheit.
Sie gingen dann in die DKP, wurden aber bald wegen „bürgerlichen Anarchismus“ ausgeschlossen. Wie hat die DKP den definiert? Laut Lenin ist Anarchie ja „umgestülpter bürgerlicher Individualismus“.
Sie haben es gar nicht definiert. In der damaligen Situation mussten die Parteigremien nichts definieren. Sie hatten ihre festgelegten Formeln.
Was lastete man Ihnen an?
Ich hatte mal in einer größeren Parteiveranstaltung gesagt: Ich brauche kein ZK, das mir meine Denklinie vorgibt.
Missfiel das nur Ihnen?
Nein. In den 1970er-Jahren gab es eine relativ große Austrittswelle, weil eigenständiges Denken innerhalb der Partei verboten war. Die Linien wurden aus der DDR vorgegeben, und für mich war auch die DDR nie ein sozialistischer Staat. Dort fehlte nämlich die Verfügungsgewalt der Arbeiter über das Kapital, und daran ist die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft gescheitert. Das hätte die DDR aus den Erfahrungen der Sowjetunion lernen können, aber das tat sie nicht. Ich habe aber von meinen Großeltern gelernt, dass das Prinzip des Jüdischen und das Prinzip der Linken eigentlich gleich sind: lebenslanges Lernen und In-Frage-Stellen.
Haben Ihre Großeltern Sie explizit jüdisch erzogen?
Ja.
Heißt das, es gab täglich Gebete mit Gebetsriemen?
Nein, mein Großvater legte wenig Wert auf Formalien. Aber wir haben zusammen Schabbat gefeiert. Das Wichtigste dabei war allerdings, an einem Tag der Woche etwas gemeinsam zu tun.
Sie haben mal erwähnt, Ihr Großvater sei Anarchist gewesen.
Ja. Das habe ich von ihm geerbt und bin dankbar dafür. Er hat immer gesagt: Kein Mensch hat das Recht, über einen anderen zu herrschen. Und unser Bücherschrank war voll mit anarchistischer Literatur. Damit bin ich aufgewachsen.
Wie viel wussten Sie über die Vergangenheit Ihrer Großeltern?
Wenig. Dass meine Großeltern das KZ Auschwitz überlebt hatten, habe ich an meinem 16. Geburtstag zufällig erfahren. Da ist meiner Oma der Ärmel hochgerutscht, sodass ich die eintätowierte Nummer sah. Als ich sie fragte, ob sie in Auschwitz war, sagte sie nur: „Ja.“ Später, als sie im Sterben lag, hat sie mir Dinge über Auschwitz erzählt, bei denen ich mich gefragt habt, warum hat sie mir die erzählt? Die sind so schlimm, die kann ich niemandem sagen.
Und warum sind Sie später in die Politik gegangen?
Richtig politisiert worden bin ich durch die Wahlerfolge rechter Parteien Mitte der 1960er-Jahre. Und durch die Erkenntnis, dass die ersten Nachkriegsregierungen von Nazis durchsetzt waren. Das fand ich unerträglich.
Aber in der Linken, wo Sie sich dann engagierten, gab es Antisemitismus. Wann genau schlug der Antizionismus dort in Antisemitismus um?
Da gibt es viele Indizien. Wenn Leute zum Beispiel nicht mehr von Israelis sprachen, sondern von Juden. Wenn sie sagen: „Die Juden müssen weg aus Palästina“, wird mir klar, dass es verkappter Antisemitismus ist. Oder wenn mir heute gute Bekannte aus der DKP sagen: „Das Existenzrecht Israels würden wir nie anzweifeln, aber ihr Juden macht da so viel Mist.“ Kritik an Israel halte ich für gut und legitim, denn ein Staat, der nach bürgerlicher Definition demokratisch funktioniert, braucht Kritik. Aber bitte in differenzierter Form.
Sind Sie von den linken Mitstreitern auch persönlich angefeindet worden?
Als Jude nie. Aber ich wurde immer identifiziert mit Israel. Auch die Kritik, die ich an Israel hatte, könne nicht ernst gemeint sein, denn ich sei ja Jude, hieß es dann.
Warum sind Sie trotzdem in den Reihen dieser Leute geblieben?
Bin ich ja nicht. Mitte der 1970er-Jahre habe ich mich zurückgezogen, weil ich es nicht mehr ertrug. Ich habe gesagt, wenn das linke Politik ist, mach ich keine linke Politik mehr.
Haben Sie nie das Gespräch gesucht?
Damals nicht. Ich dachte, ich würde keine befriedigenden Antworten bekommen. Inzwischen habe ich einige der Leute wiedergetroffen, und sie haben sich zum Teil völlig geändert. Die sagen mir: Wir haben damals einen Fehler gemacht. Wir haben Dinge ungeprüft übernommen und müssen sie revidieren. Er gibt sogar Leute aus der radikalen Linken, die heute zu mir in die jüdische Gemeinde kommen und sagen: Erzähl etwas über Israel. Da vollzieht sich ein ganz erstaunlicher Wandel.
Gibt es dafür weitere Indizien?
Ja. Als vor sechs Jahren in Hamburg die große Anti-Nazi-Demo war, haben wir als jüdische Gemeinde gesagt, wir gehen mit. Das war übrigens der Neubeginn meiner politischen Aktivitäten nach 30 Jahren. Wir hatten bei der Demo eine Israel-Fahne dabei – als Symbol dafür, dass wir als jüdische Gruppe dort sind. Zu Beginn der Demo wurden wir angegriffen – dann stellten sich Leute aus dem schwarzen Block um uns herum und sagten: Die fasst ihr nicht an!
Wie empfanden Sie das?
Zuerst dachte ich: Ausgerechnet die! Aber dann habe ich mit ihnen gesprochen und festgestellt, dass es eine radikale Linke gibt, die pro-israelisch ist.
Würden Sie der Linken eine Abkehr vom Antisemitismus attestieren?
Im Moment sind es bestimmte Gruppen, und ich hoffe, dass es mehr werden. Aber es gibt diesen Wandel, und ein Wandel innerhalb der Linken dauert erfahrungsgemäß sehr lange.
Und bei Hamburgs linkem Freiem Senderkombinat – dem FSK – arbeiten Sie jetzt auch schon seit sechs Jahren.
Ja. Begonnen hat das übrigens mit einem Interview, das ich dem FSK zu besagter Anti-Nazi-Demo gegeben habe. Die wollten wissen: Warum nimmt eine jüdische Gemeinde an so etwas teil? Warum verhält sich eine jüdische Gruppe militant?
Waren Sie militant?
Ich bin immer noch militant. Und ich mag den Begriff „Toleranz“ nicht, denn der kommt von „tolerare“, also „erdulden“. Ich bin für Akzeptanz. Ich akzeptiere viele Dinge, aber keine Nazis.
Beim FSK gibt es unter anderem Konflikte zwischen Antideutschen und Antiimperialisten. Fühlen Sie sich zwischen diesen Fronten wohl?
Die antiimperialistischen Gruppen sind außerhalb des FSK. Allerdings kann ich auch mit vielen Positionen der Antideutschen nichts anfangen. Deren Amerika-Bewunderung ist mir zum Beispiel viel zu kritiklos.
Sie sind seit zehn Jahren Vorsitzender einer jüdischen Gemeinde und vertreten deren Interessen. Aber ist das nicht auch eine Ideologie, zu sagen: Das Jüdischsein ist gut und fördernswert?
Nein. Erstens ist das Jüdische nicht immer und automatisch gut. Zweitens bedeutet Jüdischsein für mich nicht ein Zurückziehen auf die Religion, sondern es impliziert Handeln und Aufstehen gegen Ungerechtigkeit, und da habe ich die Rückendeckung der Gemeinde. Und das nicht nur theoretisch: Wenn Mitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion das Wort „Faschismus“ hören, sträuben sich ihnen die Haare. Und dann wollen die 80-Jährigen mit auf die Anti-Nazi-Demo gehen, wollen militant vorgehen. Leute im Rollstuhl!
Dulden Sie das?
Nein, ich halte sie davon ab, weil ich weiß, was auf diesen Demos regelmäßig passiert und dass sie diesen Dingen hilflos ausgesetzt wären.
Wie finden die anderen jüdischen Gemeinden Ihre politischen Aktivitäten?
Einige wollen es uns nachtun und bitten uns, ihnen dabei zu helfen. Es gibt auch Gemeinden – sowohl inner- als auch außerhalb von Schleswig-Holstein –, die engen Kontakt zu Gewerkschaften wie der IG Metall, aber auch zur Antifa halten. Unsere jüdische Gemeinde Pinneberg zum Beispiel arbeitet hervorragend mit der örtlichen Antifa zusammen.
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