Wohnprojekte in der Schweiz: Neustart für die zersplitterte Stadt
Wohnen und arbeiten nach dem Gedanken der Gemeinwirtschaft – in der Schweiz hat sich eine neue Genossenschaftsbewegung entwickelt.
![](https://taz.de/picture/121768/14/kalkbreite3.jpg)
BERLIN taz | Was hat die Schweiz, was viele andere nicht haben? Sie hat wirklich existierende, große Wohnprojekte nach dem Gedanken der Commons, der Gemeinwirtschaft. Sie sind sozial durchmischt, weil sie preiswert gebaut sind und dabei viel umweltfreundlicher als der Durchschnitt. Und das trotz – oder vielmehr gerade wegen – einer Lage mitten in der Stadt.
Ein erstes Pilotprojekt wurde schon 2001 bezogen, das Kraftwerk 1 in Zürich-West. Es hat sich in Zürich, aber auch in Luzern und Genf, eine neue Genossenschaftsbewegung entwickelt. Bauprojekte für gemeinschaftliches Wohnen werden fertig, das größte heißt „Mehr als Wohnen“. Auf einem alten Industriegelände werden dafür in Zürich-Nord gerade 185 Millionen Franken verbaut für die 450 Wohnungen von 1.100 Menschen, dazu tausende Quadratmeter für Einzelhandel und produzierendes Gewerbe. Der Einzug ist ab Herbst 2014 geplant.
Es geht um die Wiederbelebung der Stadtquartiere: wohnen, arbeiten, begegnen – eng zusammen. Darum, die „Explosion der modernen Städte“ ab etwa den 60er Jahren in Gewerbegebiete, Einkaufszentren, Kulturstätten und verstreute Schlafquartiere rückgängig zu machen, wie es in einer Broschüre des Vereins Neustart Schweiz heißt. Dieser Verein und Genossenschaften wie NeNa1 (von Neuer Nachbarschaft 1) sind Anlaufpunkte für Interessenten an dieser neuen Wohnform.
Ein wenig theoretisch-praktischer Überbau ist schon nötig, damit die Gemeinwirtschaft auch funktioniert: „Bei einem gemischt genutzten Projekt ist es essentiell, nicht einfach loszubauen. Sondern schon ab der ersten Planung die später am Wohnen Interessierten einzubeziehen“, sagt Res Keller. Er ist Geschäftsführer der Genossenschaft Kalkbreite in Zürich. 230 künftige Bewohner und 25 Gewerbebetriebe ziehen ab April in den Neubau an der Kalkbreitestraße, die Planung läuft seit 2007.
Die Form der Genossenschaft erlaubt, das Ganze abzusichern vor unerwünschten Bestimmern. Es gilt: ein Bewohner, eine Stimme. Eine weitere wichtige Rolle spielte auch, dass in Zürich schon 20 Prozent der Wohnungen von Genossenschaften gebaut sind. Das ist eine traditionelle Zürcher Form der Förderung von Wohnraum für die nicht so gut Verdienenden in der reichen Stadt.
„Die Genossenschaften haben meist am jeweiligen Stadtrand gebaut, und meist nur Wohnungen“, sagt Keller. Da war schon lange kein Gedanke mehr an eine selbstbestimmte Gemeinwirtschaft.
Die künftigen Bewohner der Kalkbreite legten zu Beginn der Planung die Projektziele und den Nutzungsmix fest. Sie schufen ein System von Gremien mit Ehrenamtlichen und Profis für die Verwaltung und das Soziale, für die Technik und für die Entscheidung, wer von den vielen Bewerbern schließlich einziehen soll.
Die Kalkbreite war ein über 6.000 Quadratmeter großer Abstellplatz für Straßenbahnen. Die sind nun umbaut von einem ringförmigen gelben Gebäude mit vielen Fenstern. Die Straßenbahnen parken unter einem 2.500 Quadratmeter großen Betondach, auf dem sich ein Hof samt Bäumen, Gärten und Bänken befindet, der auch für Nichtmieter zugänglich ist. Es gibt Wohnungen für die unterschiedlichsten Lebensformen: Wohngemeinschaften, Single-, Paar- und Familienhaushalte. Je acht bis zwölf Einpersonenwohnungen bilden ein Cluster, also eine Traube, mit gemeinschaftlicher Infrastruktur.
Alle Bewohner nutzen möglichst viele Räume und Technik gemeinsam. „Nicht jeder Einzelne braucht für sich exklusiv Gästezimmer, Waschmaschine oder ein großes Wohnzimmer für die Feiern im Jahr, diese Dinge werden geteilt“, erklärt Fred Frohofer. Frohofer ist im Vorstand der Vereins Neustart Schweiz. Und er zieht in die Kalkbreite.
Das Teilen von Räumen spart viel Platz: Wird derzeit in Zürich im Schnitt bei Neubauten pro Kopf eine Wohnfläche von 50 Quadratmetern verbaut, sind es in der Kalkbreite nur knapp 35, rechnet Res Keller vor. Das ermöglicht für Zürich günstige Mieten von etwa 2.000 Franken monatlich für eine 100-Quadratmeter-Wohnung.
20 Wohnungen mit insgesamt über 50 Bewohnern haben sich zu einem „Großhaushalt“ zusammen getan und leisten sich eine professionelle Küchenlandschaft mit eigenen Köchen. Es gibt mietbare Räume für Feiern oder für Seminare der Gewerbetreibenden. Alles wird über ein elektronisches Reservierungssystem gesteuert.
In den unteren beiden Etagen des sechsgeschossigen Komplexes mieten sich Gewerbetreibende ein, darunter Greenpeace Schweiz, ein Kino, ein Restaurant und ein Laden der 20 Kilometer entfernten Bauerngemeinschaft Bachsermärt, die den Großhaushalt mit Getreide und Milchprodukten versorgt.
Die 35 Quadratmeter Wohnfläche pro Person entsprechen dem Flächenverbrauch der 50er Jahre – allerdings mit mehr Komfort und höheren Umweltstandards.
Auch der Energieverbrauch ist potentiell wieder so niedrig wie vor 50 Jahren, also etwa ein Drittel des heutigen in Mitteleuropa. Eine Solaranlage auf dem Dach deckt 20 Prozent des Stromverbrauchs, eine Wärmepumpe im Keller den gesamten Wärmebedarf.
Niedriger Umweltverbrauch heißt auch, dass es keine Autos gibt. Das stellte sich als prominenteste Schwierigkeit bei der Genehmigung heraus. „Im Stadtrat ging es nicht etwa darum, ob wir das Projekt mit seinen 60 Millionen Franken stemmen können, sondern ständig war ein Thema, dass wir keine Parkplätze wollen und autofrei bei der Kalkbreite verpflichtend war“, erinnert sich Geschäftsführer Keller. „Dabei haben 75 Prozent der in der Gegend wohnenden Zürcher sowieso kein Auto.“
Link zum Umweltkonzept einer 2.000-Watt-Gesellschaft, also einer Konsumweise, die etwa ein Drittel bis ein Viertel des ökologischen Fußabdrucks des derzeitigen Durchschnittseuropäers hinterlässt: www.2000watt.ch
Über ein ähnliches Projekt wird auch in Deutschland nachgedacht, es ist allerdings noch lange nicht im Bau: halle-im-wandel.de
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