Wohnprojekte in der Schweiz: 500 sind eine Nachbarschaft
Wie sich Gemeinwirtschaft in Städten neu beleben lässt: Ein konkreter Ansatz aus der Schweiz, der auch den Umweltverbrauch drastisch senkt.
Für Hans Widmer ist die 500 eine wichtige Zahl. Der Schweizer Schriftsteller und Philologe, besser bekannt unter dem Pseudonym P.M., ist ein Vordenker eines „Lebens nach der Wirtschaft“.
In den frühen 80ern entwickelte er, durchaus mit anarchistischem Interesse, die Idee des Bolos, was damals noch viele für balabala hielten. Es ging schon damals darum, sich vom blanken Kapitalismus in eine demokratischere, krisenfestere und umweltfreundlichere Lebensweise abzusetzen.
Widmer entwickelte dafür die Idee von autonomen Gemeinschaften, genannt „Bolos“, die in urbanen Gegenden liegen und über Bauernhöfe im Vorland versorgt werden. Und knapp 500 Menschen, wies der Utopist nach, sind die kritische Masse, damit dieser sozialer Mikrokosmos noch überschaubar genug ist, um sich selbst zu organisieren. Und doch so groß, dass sich ein Wirtschaftsgebilde entwickeln kann, in der alle ihr Auskommen haben.
Nach 30 Jahren geht Widmers Konzept nun in die Umsetzung. Entsprechend nüchterner ist die Sprache geworden: Nachbarschaft heißt beim Verein Neustart Schweiz, was Widmer mit Bolo meinte. Der Verein mit einem Schwerpunkt in Zürich verwirklicht seit 2010 Widmers Ideen in ersten Bauprojekten.
Man kann sich das so vorstellen: Die neuartigen Nachbarschaftler wohnen in dicht bebauter Wohn- und Gewerbemischbebauung, fünf- oder sechsstöckig, damit außenrum noch Platz für Grün bleibt und zwischendrin Plätze – also eng genug, dass man sich trifft. Solch eine Nachbarschaft kommt mit 100 mal 100 Meter Grund aus, einem Hektar also. Würde man die entsprechenden 200 Einfamilienhäuser bauen, wären dafür ohne Erschließungsstraßen schnell das Zehnfache nötig.
Vieles wird gemeinsam genutzt, Sharing ist ein Grundprinzip: Wenn Waschmaschinen, Partyräume, Fernsehzimmer für alle bereit stehen, spart das neben Quadratmetern auch Kosten.
In den Erdgeschossen liegen die Räume für Werkstätten, Büros oder Gastwirtschaften. Das schafft kurze Wege zur Arbeit und wegen der Nähe zum Kunden auch die Produkte, die die Bewohner brauchen. Keine Wegwerfartikel, sondern langlebige Geräte, die man beim Erzeuger reparieren lassen kann. Die Initiatoren von Neustart haben dabei vor allem moderne Dienstleister und Fertigungsstätten im Auge. Es ist eine Art lokale Reindustrialisierung, die ihnen vorschwebt und die den Kunden im Gegensatz zu einer globalen Produktionskette Mitsprache ermöglicht.
„Nur wenn die Verbraucher an der Erzeugung beteiligt sind, verstehen sie den Wert und können auch bestimmen, was produziert wird“, sagt Tex Tschurtschenthaler von Neustart Schweiz. Er hat bereits eine Gartenkooperative namens Ortoloco mitgegründet. Unter der Anleitung von fest angestellten Gärtnern bauen etwa 200 Städter dort auf gepachtetem Land ihr Gemüse an. Jeder muss im Jahr mindestens zehn halbe Tage im Garten mitarbeiten, wenn er wöchentlich Gemüse geliefert bekommen will. Das ist Landwirtschaft ohne Konkurrenz mit dem internationalem Agrarhandel und ohne Wachstumszwang. Tschurtschenthaler: „Wir wollen dem Markt ausweichen, auch dem grünen.“
Da kommt wieder die Größe ins Spiel: Nur wenn genügend Abnehmer da sind, läuft das effektiv. Und nur wenn es nicht zu groß wird, bleibt die Bürokratie persönlich und effektiv. Bei 500 Leuten wird täglich knapp eine Tonne Lebensmittel bewegt. Das braucht Vertragslandwirte und eine Erzeugungsfläche von etwa 80 Hektar. Fläche genug ist vorhanden, das sind nur ein bis zwei heutige Bauernhöfe.
Was bei P.M. noch als Weg hin zu einer autonomen Gesellschaft gemeint war, ist inzwischen auch dem Nachhaltigkeitsgedanken verpflichtet, genauer: der sogenannten 2.000-Watt-Gesellschaft. Das ist der inzwischen weit überschrittene Stand der Weltbevölkerung aus dem Jahr 1990, so Berechnungen der ETH Zürich.
Die 2.000 Watt meinen dabei den konstanten Verbrauch eines Menschen über den Tag und die Jahre hinweg. Also zum Beispiel in einem Moment gleichzeitig fernsehen (200 Watt), Wasser kochen (1.300 Watt) und eine große Tafel Schweizer Schokolade essen (500 Watt). Bei der Schokolade kommt dabei der Energieverbrauch nicht von den Kalorien der Kakaobutter (die liefert die Sonne), sondern von der Energie, die Menschen in die Produktion gesteckt haben, bis man sie kauft.
Heutzutage öffnet sich beim Verbrauch eine weite Schere. Ein Äthiopier etwa braucht 500 Watt, ein Schweizer dagegen über 6.000, sagt der Zürcher Berater Gabor Doka, der sich mit Ökobilanzen auch von solchen Neustart-Gemeinschaften befasst. „Wenn man die Importe von Gütern miteinbezieht, sind es sogar über 8.000 Watt.“
2.000 Watt, also ein Viertel des derzeitigen Verbrauchs - das heißt keinesfalls, dass auch die Lebensqualität durch vier geteilt werden muss. Es entspricht dem Verbrauch Ende der 50er Jahre. Damals produzierte man zwar im Vergleich zu heute sehr ineffektiv, konsumierte aber weniger. Und es gab weniger Autos.
Die kurzen Wege einer Neustart-Siedlung ohne Autos senken den Energieverbrauch enorm. Ähnliches wird durch die lokale Produktion von Gütern oder dem Essen erreicht: 28 Prozent des Umweltabdrucks eines durchschnittlichen Mitteleuropäers gehen über Essen und Getränke. Hier lässt sich durch eine Versorgung wie durch Tschurtschenthalers Ortoloco-Landwirtschaft viel sparen.
Klingt noch sehr nach Utopie? Die Züricher wenigstens haben bereits beschlossen, ihre Stadt zur 2.000-Watt-Gesellschaft umzubauen. Sie wissen aber nicht so recht, wie sie dahin kommen sollen. Eine Initiative zehn deutscher und Schweizer Städte im Bodenseegebiet informiert seit Oktober 2013 ihre Bürger über das Ziel, spricht aber von „Jahrzehnten“ dahin. Die Neustart-Genossenschaften zeigen schon heute einen praktikablen Weg.
Die Links: www.2000watt.ch und nena1.ch sowie die Spatenbrigade auf ortoloco.ch
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