Wohnprojekt: Einer Insel droht der Untergang

Die Wohngemeinschaft Linienstraße 206 soll aus ihrem Altbau in Mitte ausziehen. Der neue Eigentümer will selbst darin wohnen. Doch die Bewohner wollen ihr Kleinod lieber selbst kaufen

Zwischen den Neubauten wirkt das Haus wie eine Ruine. Von der Fassade bröckelt der Putz. Gut leserlich prangt in großen Buchstaben die Botschaft der BewohnerInnen an der Hauswand: "Soldaten sind Mörder". Für das Kurt-Tucholsky-Zitat ist das Gebäude in der Linienstraße 206 stadtbekannt. Fragt sich nur, wie lange noch. Denn die Zukunft des Altbaus in Mitte ist ungewiss. Der neue Besitzer will Eigenbedarf anmelden. Die 18 BewohnerInnen sollen ausziehen. "Doch so einfach geben wir nicht auf", erklärt Bewohnerin Stefanie*.

"Klingel geht" steht in Handschrift neben dem einzigen Klingelknopf im Eingangsbereich. "Früher hatten wir hier eine selbstgebastelte Klingelanlage. Kabel schauten heraus und Besucher dachten immer, die funktioniert nicht", erklärt Stefanie die überflüssige Notiz, als sie die Tür öffnet. Die 32-Jährige wohnt seit sechs Jahren in der linken Wohngemeinschaft. "Ich wollte mit mehreren Menschen zusammenwohnen, die ich gern habe", sagt die gebürtige Sächsin, "dafür wollte ich nicht extra eine Familie gründen." Ein alternatives Hausprojekt wie dieses sei dafür ideal gewesen.

Die unebenen Treppenstufen knarzen beim Hinaufgehen. In der großen Wohnküche im dritten Stockwerk brutzelt Mitbewohner Henning* geschnetzeltes Fleisch in zwei Pfannen. Es riecht nach angebratenen Zwiebeln. "Jede der drei Küchen kocht mal für das ganze Haus", sagt er, als er eine Großpackung Nudeln in einen großen Kochpott schüttet. In der zusammengewürfelten Wohngemeinschaft ist nicht nur die Altersspanne groß, auch die Berufswahl der Leute ist vielfältig. "Hier leben unter anderem SozialpädagogInnen, ErzieherInnen, Messebauer, Studenten, Arbeitslose und eine Designerin unter einem Dach", sagt Stefanie. Sie ist Taxifahrerin. Gemeinsam sei ihnen der Wunsch nach einem alternativen Zusammenleben. Das bedeutet für die BewohnerInnen vor allem, nicht alleine zu sein. "Man hat immer eine Person zum Unterhalten oder um Probleme zu bewältigen", beschreibt Henning das Zusammenwohnen und wendet das Fleisch in der Pfanne. Prinzip des Hausprojekts ist es außerdem, dass alle Entscheidungen immer im Konsens getroffen werden. "Auf dem Montagsplenum werden deshalb mit allen Bewohnerinnen und Bewohnern aktuelle Sachen besprochen", sagt er.

Momentan gibt es vieles zu besprechen. Denn im Juni stand der neue Eigentümer des Hauses, Tilmann Steinich, unangekündigt vor der Tür. "Er wollte Zugang zu seiner Immobilie haben und kündigte an, Eigenbedarf für das gesamte Haus anzumelden", erinnert sich Henning. Die Bewohner verwehrten ihm den Zutritt. Um dennoch ein Gespräch zu erzielen, hinterließ Steinich seine Telefonnummer. Das fand Ende Juni statt. Bei dem Treffen habe der neue Hausbesitzer eine "Drohkulisse" aufgebaut, fährt der etwa 25-jährige Bewohner fort. Steinich habe angekündigt "über kurz oder lang" im Haus zu sitzen. "Er bot uns 40.000 Euro an, wenn wir ausziehen", sagt Henning. Würde die Hausgemeinschaft darauf nicht weiter eingehen, so werde er, Steinich, den juristischen Weg gehen. Auf einem erneuten Plenum war schnell klar: "Wir lassen uns nicht kaufen", sagt Stefanie.

Das Wohnprojekt gibt es bereits seit 18 Jahren. Im Mai 1990 wurde das leerstehende Gebäude besetzt, es sollte vor dem Abriss geschützt werden. Zudem wollte man bezahlbaren Wohnraum in zentraler Lage erhalten. Mit der Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) konnten Ende 1990 Mietverträge geschlossen werden. "Der Versuch im Jahr 2000, ein Genossenschaftsmodell mit baulicher Selbsthilfe aufzubauen, zerschlug sich mit dem Bankenskandal und der Berlinpleite", erklärt Henning, während die Nudeln kochen. Denn die Förderung für alternative Projekte sei damals vom Senat gestrichen worden. Im selben Jahr erfolgte die Rückübertragung des Hauses an eine Erbengemeinschaft. Die veräußerte das Gebäude letztlich an eine Bremer Hauptgrundbesitz-GmbH für 660.000 Mark. "Wir denken schon seit etwa drei Jahren mehr oder weniger intensiv über den Kauf des Hauses nach", erklärt Stefanie. Das dauerte offenbar zu lange. Die BewohnerInnen meinen, die Bremer GmbH habe das inzwischen denkmalgeschützte Gebäude nicht an sie verkaufen wollen. "Die haben abgewartet, bis wir nicht mehr im Sanierungsgebiet lagen und an den erstbesten Investor mit Spekulationsgewinn verkauft", so Henning. Das sei dann Steinich gewesen.

Einen konkreten Finanzierungsplan, um ihr Wohnhaus selbst zu erwerben, entwickelte die WG erst Anfang diesen Jahres. Der Kauf sollte größtenteils über Kredite, Bürgschaften und Darlehen erfolgen. Die Idee war, das Haus über das "Freiburger Mietshäuser Syndikat" zu erwerben. Dieser deutschlandweite Verbund aus 37 Hausprojekten und 30 Initiativen unterstützt selbstorganisierte Hausprojekte mit dem Ziel, einen Verkauf zu verhindern. "Damit wäre der Erhalt des Projekts gesichert und unser Haus dem Immobilienmarkt dauerhaft entzogen", erklärt Stefanie. Doch Steinich kam ihnen zuvor. Dennoch wolle man das Haus noch immer kaufen, "auch von Steinich".

Dass sie ihr 250 Quadratmeter großes Domizil nicht einfach aufgeben, teilten die BewohnerInnen dem neuen Eigentümer in einem Brief mit. Den übergaben sie Steinich vor kurzem mit rund 30 UnterstützerInnen vor dessen Wirtschaftsberatungsbüro in Mitte. "In dem Brief schreiben wir, dass wir sein Geld nicht wollen und er die Möglichkeit prüfen soll, vom Kaufvertrag zurückzutreten", sagt Stefanie. Steinich selbst zeigte auf den Brief bisher keine Reaktion und wollte auch nicht kommentieren, was mit der jetzigen Wohngemeinschaft geschehen soll.

Im Hinterhof erreicht man über eine Wendeltreppe mit handbreiten Stufen eine selbstgebastelte Plattform aus Holzspanplatten. Von dort bietet sich ein Ausblick auf die Baustelle des Nachbargrundstücks. "Richtig draußen sitzen können wir wegen des Baustellenlärms gar nicht mehr", beklagt sich Stefanie. Henning fügt hinzu: "Wir werden hier zunehmend eingebaut. Unser Hausprojekt hat immer mehr einen Inselcharakter." Eine Insel, deren BewohnerInnen sich wohl bald ein neues Ufer suchen müssen.

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