: „Woher kommt dieser Mensch?“
Der iranische Regisseur Jafar Panahi musste seinen in Cannes prämierten Film „Ein einfacher Unfall“ über die Nachwirkungen politischer Gewalt heimlich drehen. Er spricht über Trauma und Humor, die Rolle des Kinos im Widerstand und die Frage, warum Exil für ihn keine Option ist
Interview Thomas Abeltshauser
Jafar Panahi dreht weiter – trotz Haft, Zensur und erneuter Verurteilung. Mit „Ein einfacher Unfall“ legt der iranische Regisseur einen Film vor, der von den Nachwirkungen politischer Gewalt erzählt, ohne je plakativ zu werden. Ehemalige politische Gefangene glauben, ihrem mutmaßlichen Folterer zufällig im Alltag zu begegnen. Was folgt, ist kein Rachethriller, sondern eine vielschichtige Reflexion über Erinnerung, Angst und die Frage nach Verantwortung in einem repressiven System wie dem des Iran. Panahi verdichtet eigene Hafterfahrungen zu einer Erzählung, in der Stimmen, Geräusche und innere Bilder eine zentrale Rolle spielen. Nach der Goldenen Palme im Mai ist der heimlich gedrehte Film nun für den Europäischen Filmpreis nominiert und hat Oscar-Chancen.
taz: Herr Panahi, die Grundidee Ihres neuen Films wirkt verstörend real. Beruht sie auf tatsächlichen Erfahrungen oder ist sie eine Fiktionalisierung?
Jafar Panahi: Politische Gefangene entwickeln während der Haft starke innere Bilder. Oft sind ihnen die Augen verbunden, sie sehen ihre Verhörer nicht. Die Vorstellungskraft arbeitet ununterbrochen: Wie sieht dieser Mensch aus? Würde ich ihn draußen erkennen? Kenne ich ihn vielleicht? Diese Fragen begleiten fast alle politischen Gefangenen. Als ich 2022/23 im Gefängnis war, wurden meine Ohren extrem empfindlich. Ich konnte Menschen allein an ihrer Stimme erkennen. Wenn man sie hört, versetzt es den Körper sofort in Alarmbereitschaft. Diese Erfahrung war der eigentliche Ausgangspunkt des Films. Der Film ist weniger eine konkrete Rekonstruktion als eine Verdichtung dieser inneren Gedankenspiele – und ein Versuch zu beobachten, was passiert, wenn solche Erwartungen auf die Realität treffen.
taz: Sie verzichten dabei auf eindeutige Schuldzuweisungen, alles bewegt sich in Grauzonen.
Panahi: Wenn man die Schuld nur einer einzelnen Person zuschreibt, verfehlt man das eigentliche Problem. Das Hauptproblem ist die Struktur, das System, das solche Menschen hervorbringt. Hätten die ehemaligen Gefangenen den Folterer getötet, wäre es ein Rachefilm gewesen. Aber das hätte nichts verändert. Der Film fragt: Woher kommt dieser Mensch? Er ist ein Produkt einer Machtstruktur. Es geht nicht um Vergebung, sondern um Bewusstwerdung.
taz: Wie haben Ihre eigenen Hafterfahrungen Ihren Blick auf diese Machtstrukturen verändert?
Panahi: Dieses Regime ist politisch, ideologisch und wirtschaftlich gescheitert. Nach der Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ ist das für alle offensichtlich geworden. Gleichzeitig hält sich das System weiter durch Geld, Gewalt und Repression an der Macht. Von außen hat es seine Legitimität verloren, von innen existiert es nur noch durch Unterdrückung.
taz: Sie haben erneut heimlich gedreht. Was bedeutet dieses Risiko für Sie und Ihr Team?
Panahi: Wenn man unter solchen Bedingungen arbeitet, bleibt einem oft keine Wahl. Die Zensur besteht weiter, auch wenn offiziell von Freiheit gesprochen wird. Auch wenn mein offizielles Drehverbot inzwischen aufgehoben wurde, würde mir die Regierung niemals eine Genehmigung für einen solchen Film geben. Also habe ich ihn wieder heimlich gedreht. Man lernt, sich selbst und das Team zu schützen, um überhaupt weiterarbeiten zu können. Mutiger wird man nicht. Man wird nur erfahrener.
taz: Trotz der Schwere des Themas bewahren Ihre Filme einen feinen, manchmal fast beiläufigen Witz. Ist Humor für Sie ein Mittel, um über Traumata zu sprechen?
Panahi: Es geht nicht um einen einzelnen Ton, sondern um eine sehr präzise Mischung. Humor kann Dinge ausdrücken, die sonst kaum sagbar wären. Als Filmemacher arbeite ich mit Realismus: mit realen Orten, realen Menschen, realen Situationen. Und im iranischen Alltag entsteht Humor oft ganz natürlich – durch Sprache, Gesten, Reaktionen. Wenn man die dunkle Seite zeigt, muss man auch die andere Seite zeigen. Diese Balance zu finden, ist eine sehr genaue, fast handwerkliche Arbeit.
taz: In Ihrem Film gibt es eine Figur, die Hochzeitsfotografin, die einen Frauentyp verkörpert, den wir früher im iranischen Kino nicht gesehen haben.
Panahi: Sie steht für den gesellschaftlichen Wandel im Land. Junge Frauen sind heute sichtbarer, selbstbewusster, weigern sich oft, Kopftuch zu tragen. Seit der Bewegung von 2022 ist diese weibliche Energie in der gesamten iranischen Gesellschaft deutlich spürbar. Das wollte ich abbilden.
taz: Ihre Filme werden international gefeiert, sind im Iran jedoch verboten. Was bedeutet diese Anerkennung außerhalb des Landes für Sie?
Panahi: Es ist schmerzhaft. Wenn man einen Film an einem Ort macht, möchte man vor allem, dass er dort gesehen wird – von den eigenen Landsleuten. Wenn sie deine Filme nicht sehen können, fehlt dir etwas Wesentliches: ihre Reaktionen, ihre Kritik. Das ist für einen Filmemacher eine Form der Entbehrung.
Jafar Panahi wurde 1960 in Mianeh geboren. Wegen seiner kritischen Filme erhielt der Regisseur im Iran ein Berufsverbot und kam 2022 vorübergehend in Haft. Er gewann für seine Arbeiten Hauptpreise auf den Filmfestivals in Cannes, Venedig und Berlin, etwa den Goldenen Bären 2015 für „Taxi Teheran“.
taz: Schützen internationale Preise Sie – oder erhöhen sie die Gefahr?
Panahi: Beides. Bekanntheit erhöht das Risiko, verschafft aber auch eine gewisse Immunität. Als ich im Gefängnis im Hungerstreik war, wusste die Welt davon. Andere Gefangene waren seit Wochen im Hungerstreik, ohne dass jemand davon erfuhr. Sichtbarkeit kann schützen.
taz: In Ihrem Film stehen Rache und Vergebung in Spannung zueinander. Was ist Ihrer Meinung nach entscheidend, um nach dem Ende autoritärer Regime voranzukommen?
Panahi: Das hängt davon ab, wie man diese Begriffe definiert. Es gab zum Beispiel einen Brand im Evin-Gefängnis. Einige Gefangene konnten entkommen und sahen dabei verletzte Wärter, die am Boden lagen. Anstatt zu fliehen, halfen viele dieser Gefangenen den verletzten Wärtern. Ist das Vergebung? Ich nenne es Menschlichkeit. Solange Menschen menschlich handeln, kann die Welt vorankommen. Vergebung bedeutet für mich nicht, die Augen zu schließen. Die aktuelle Regierung versucht, der Gesellschaft Gewalt aufzuzwingen. Je mehr ihr das gelingt, desto gewalttätiger kann auch die Reaktion der Gesellschaft werden. Es ist ein Kreislauf. Deshalb muss man sich weigern, ihre Sprache zu übernehmen.
taz: Ist das Ihr bislang politisch schärfster Film?
Panahi: Das Thema ist politisch, aber ich verstehe mich nicht als politischen Filmemacher im ideologischen Sinn. In meinen Filmen ist niemand vollkommen gut oder vollkommen schlecht. Ich urteile nicht. Ich gebe allen Figuren Raum und überlasse dem Publikum die Schlussfolgerungen.
taz: „Ein einfacher Unfall“ ist nun mehrfach für den europäischen Filmpreis nominiert und hat große Oscar-Chancen. Was erhoffen Sie sich, kann Ihr Film bewirken?
Panahi: Wir sollten das Kino nicht idealisieren. Ein Film braucht Jahre, um zu entstehen. Seine Wirkung ist langsamer, aber historischer. Heute besitzt jede und jeder ein eigenes Medium, um sich unmittelbar auszudrücken. Das Kino ist nur ein Teil dieses Widerstands – aber einer, der bleibt. Ich sehe die Anerkennung für das iranische Kino insgesamt. Und für mich persönlich ist es vor allem Ansporn zu überlegen, wovon mein nächster Film handeln soll.
taz: Gerade wurden Sie von einem Gericht in Teheran in Abwesenheit zu einem Jahr Haft verurteilt. Trotzdem wollen Sie in den Iran zurückkehren. Warum ist Exil keine Option?
Panahi: Ich verstehe ehrlich gesagt Ihre Frage nicht. Ich bin doch dort aufgewachsen. Meine Arbeit, mein Leben, meine Sprache sind dort verankert. Selbst wenn ich lange Zeit im Ausland verbringe wie jetzt, um meinen Film zu präsentieren, könnte ich mich im Exil nicht auf Dauer anpassen. Jede Arbeit hat ihren Preis, und ich akzeptiere die Konsequenzen.
„Ein einfacher Unfall“. Regie: Jafar Panahi. Mit Vahid Mobasseri, Mariam Afshari u. a. Iran/Frankreich/Luxemburg 2025, 105 Min. Ab 8. 1. im Kino
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