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Wo Mord Säuberung heißt

aus Alchan-Kala KLAUS-HELGE DONATH

Wortlos reicht das Mädchen der Schwester den in Zellophan eingewickelten Stoffrest. „Daran haben wir ihn erkannt“, flüstert die ältere. „Ein Hemdsfetzen.“ Am 25. April war ihr Vater Schirwani Kitajew nach einer Razzia russischer Militärs verschwunden. „Sie kontrollierten die Pässe und taten so, als wäre nichts. Plötzlich drängten sie ihn auf die Straße zu einem Mannschaftstransporter.“ Bis Mai fehlte jede Spur des 51-Jährigen, der in Alchan-Kala, einem Ort mit 20.000 Einwohnern nahe Grosny, dem Ältestenrat angehörte.

Weder Militärs noch Staatsanwaltschaft noch die von Moskau gesteuerte tschetschenische Regierung und wen sie sonst noch alles um Aufklärung gebeten hatten, konnte oder wollte etwas über den Verbleib des Vaters von elf Kindern sagen. Eine alltägliche Geschichte im Kaukasusfeldzug, der das abtrünnige Tschetschenien seit drei Jahren zur freiwilligen Heimkehr nach Russland bringen soll.

Erst ein flüchtiger Bekannter, ein Militär, setzte die Familie Kitajew auf die richtige Fährte: Mit Schirwani verschwanden am selben Tag noch drei andere Männer, der Hinweis führte zu einem fünfstöckigen Gebäude auf dem Terrain eines verlassenen Getreidesilos abseits des Ortes. Die Militär hatten den Bau vorübergehend in eine Folterkammer verwandelt. Ein Jugendlicher, so berichtet es die Bürgermeisterin, will einen bis zu den Oberarmen mit Blut besudelten Uniformierten gesehen haben, als der das Haus verließ. Minuten später wurde das Gebäude gesprengt.

Im Ziegelschutt haben die Einwohner mit bloßen Händen nach sterblichen Überresten gegraben. Schirwani Kitajews Vater fand den Oberarm seines Sohnes mit dem Hemdfetzen, später ein Bein ohne Fuß und ein Schulterfragment. „Allah hat mir ein Zeichen gegeben, ich konnte meinen Sohn wenigstens begraben“, sagt er. Sein Sohn habe die Wahhabiten, die islamistischen Fundamentalisten, gehasst.

Auch von anderen Vermissten fanden die Bewohner von Alchan-Kala Leichenteile. „Aber“, erzählt der Alte, „nicht ein einziges inneres Organ.“ Hinweise auf Verstümmelungen bei lebendigem Leibe und rituelle Tötungen häufen sich. Die sieben Söhne Schirwani Kitajews haben sich aus Angst vor den Todeskommandos bei Verwandten versteckt.

Vergebliche Suche nach Logik

„Satschistka“ – Säuberung – nennt das Militär solche Maßnahmen. Es war bereits die zweite Satschistka innerhalb eines Monats in Alchan-Kala – die erste dauerte vom 11. bis zum 15., die zweite vom 25. bis zum 30. April. Eine Vergeltung, glauben die Einheimischen, weil sie es gewagt hatten, sich über die Verbrechen der Militärs zu beschweren. Vor dem Hintergrund des Gemetzels suchen die Betroffenen eine nachvollziehbare Erklärung, als bewege sich das Ganze innerhalb einer Logik von Schuld und Sühne, Ursache und Wirkung.

Ein Geheimdienstler, der nicht genannt werden will, erklärt, oft würden die Beweise für einen Schuldspruch wegen Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe vor Gericht nicht reichen. Daher übten Militär und Geheimdienste gelegentlich Selbstjustiz. Verfassungsmäßige Ordnung nennt Moskau das. Inzwischen wird auch Jagd auf Männer gemacht, die der Kreml amnestiert hat.

Am anderen Ende des durchkämmten Viertels liegt der Hof Malkan Asujewas. Hinter einem Eisentor, wie es hier fast jedes Haus von der Straße abschirmt, ist es still. Malkan Asujewa hat zwei ihrer drei Söhne verloren, der Älteste fiel schon im ersten Tschetschenienkrieg. Die Frau Mitte fünfzig bewegt sich wie in Trance, ein Enkel versteckt sich hinter ihrer Schürze.

Am 28. April, so berichtet es Malkan Asujewa, seien 20 Bewaffnete auf ihren Hof gekommen. Der Kommandeur ermunterte seine Soldaten, sie zu vergewaltigen. Sie entblößten die Frau bis auf die Unterwäsche, sie wehrte sich. Erst als die Kinder schrien, ließen die Soldaten von ihr ab. Sie verwüsteten die Einrichtung und nahmen die Söhne Ruslan und Schamilchan mit. Am nächsten Tag lagen ihre Leichen vor der Moschee.

Ein Nachbar berichtet, dass an Ruslans Händen die Finger fehlten. Sie waren offensichtlich durch Pistolenschüsse abgetrennt worden, neben Schnittwunden und sichtbaren Knochenbrüchen waren Fleischfetzen aus den Körpern herausgerissen worden. „Wir haben der Mutter die Leichen nicht gezeigt“, sagt der Nachbar. Der 25-jährige Ruslan arbeitete beim Erziehungsministerium Tschetscheniens als Fahrer. Den Dienstwagen steckten die Soldaten in Brand und walzten ihn mit einem Panzerfahrzeug platt. Der Nachbar erklärt, die beiden Asujews hätten nie etwas mit Rebellen zu tun gehabt.

Sie klauten sogar alte Latschen

Das Haus der Magomadows liegt auf einer Anhöhe, in der Straße „am Rande“, der Uliza krainaja. Von hier aus wurden die Bewohner der Höfe in eine Senke getrieben, bis die Soldaten ihr Beutegut auf Lastwagen verstaut hatten. Bei den Magomadows gibt es seitdem keinen Mann mehr im Haus. „Warum konnten sie mir den Kleinen nicht lassen?“, seufzt die 71-jährige Mutter von elf Kindern. Ihre Söhne Schirwani und Adlan, die sich den Rebellen angeschlossen hatten, fielen am 26. April bei einem Schusswechsel mit russischen Truppen. Die beiden Brüder Scharani und Roman waren am Vortag auf der Straße festgenommen worden, Sippenhaft. Seither sind sie verschollen. Roman, der Kleine, litt seit der Kindheit an einer leichten Behinderung, erzählt die Mutter, er habe niemandem etwas zuleide tun können. „Wie Hunde stürzten sie sich auf meine Söhne.“ Die alte Frau ist verwirrt, zwischendurch erzählt sie von Ziegen und Hausrat, alles wurde gestohlen. „Nicht einmal die alten Latschen haben sie stehen lassen“, sagt sie und lacht verächtlich. Ihre Tochter Assja Magomadowa sitzt wortlos daneben, sie ist Ärztin, arbeitet aber schon lange nicht mehr in ihrem Beruf. Sie hat Angst vor den Militärs, die ihr unterstellen könnten, Rebellen behandelt zu haben.

Im Stellwerkerhäuschen auf dem Bahnhof hat sich die Ortsverwaltung einquartiert. Früher war Alchan-Kala eine wohlhabende Industriesiedlung. Seit die einzige Brücke gesprengt ist, ist der Ort von Süden nur über eine Hängebrücke und von Norden auf einem verschlammten Weg zu erreichen.

Es sind nicht die berüchtigten Todesschwadronen, die auf eigene Faust agieren, nachts ausschwärmen und Gefangene machen, um Lösegeld zu erpressen. Nach Alchan-Kala kommen reguläre Truppen, mit regulärem Marschbefehl. Dennoch weiß niemand, wer die Häscher wirklich sind. Befehl Nummer 80, den der russische Kommandant im März erlassen hat, schreibt vor, dass Lokalverwaltung und Staatsanwaltschaft bei Säuberungen einzuschalten sind und „Kontrolleure“ sich ausweisen müssen. Eine Liste inhaftierter Personen ist der örtlichen Administration zu übergeben. „Sie lachen uns aus, wenn wir nach ihrer Identität fragen“, meint eine Frau in der Verwaltung: „Der Befehl ist für die UNO, ein Feigenblatt, alles andere regeln Gewalt und Willkür.“

In Alchan-Kala haben Frauen die Regie übernommen. Eigentlich seien sie des Erzählens müde, sagen sie. Wozu das alles noch, die Welt habe Tschetschenien nach dem 11. September ohnehin „abgeschrieben“. Malika Umaschewa, die Bürgermeisterin, hat nicht aufgegeben. Auch sie sitzt in dem umfunktionierten Stellwerkeräuschen, nachdem das Militär erst das Rathaus und dann den Bahnhof, das erste Notquartier, zerstört hatte. Vor Sonne und Wind bietet das Haus notdürftig Schutz, mehr nicht. Am Eingang drängen sich Ratsuchende, der Bezug von Arbeitslosenhilfe ist gerade wieder erschwert worden. Die 55-Jährige stellt sich gegen die Militärs. Ihr Neffe Uzujew sei tagelang gefoltert worden, berichtet sie. Dann hätten die Soldaten ihn freigelassen. Aber schon am nächsten Morgen seien Soldaten ins Haus gestürmt und hätten den Neffen erschossen. Danach schleppten sie Waffen her, gruben den Hof auf und zeichneten den „Fund“ auf Video auf: eine inszenierte Beweisaufnahme.

Nach der ersten Säuberung hatte die in Moskau ausgebildete Pädagogin einen Fehler begangen. Sie ging auf das Drängen des Militärstaatsanwalts ein und bestätigte, dass es bei den Säuberung keine Rechtsverletzungen gegeben habe. „Malika, setz den Stempel drunter, dann ziehen sie ab“, soll er sie beschworen haben. Auch der Ältestenrat stimmte zu. 20 Minuten später verwüsteten Soldaten das Krankenhaus und fielen erneut über den Ort her. Der Staatsanwalt soll sich später entschuldigt haben, ihn habe sein Vorgesetzter belogen.

Die zweite Säuberung Ende April: Neunmal durchkämmen sie das Anwesen Umaschewas, weil sie diesmal den Stempel verweigert. Sie rollt den Teppich beiseite und zeigt auf die Einschussstellen der Maschinenpistolen-Salven. Danach hätten sie die Gasleitung aufgedreht und Sprengstoff daneben gelegt. Umaschewa bleibt eisern. Mittags melden Moskaus gleichgeschaltete Medien, 600.000 US-Dollar und ein halber Eimer mit Brillanten seien bei ihr entdeckt worden. In den Abendnachrichten werden die Dollars zu Blüten.

Terror aus dem Stabsquartier

15 Tote bleiben zurück. Seit Ausbruch des Krieges 1999 wurden über 150 Menschen in Alchan-Kala getötet, weit über 100 werden vermisst. Wo sich die Terroristen verstecken, verschweigt Umaschewa nicht: „In Chankala“ – dem Stabsquartier der russischen Truppen.

Unterdessen ziehen die Marodeure weiter. In Mesker-Jurt, 30 Kilometer östlich von Achan-Kala, starben bis zum 11. Juni acht Menschen, über 20 werden vermisst. Der Ort war zweieinhalb Wochen von der Außenwelt abgeschnitten, nicht mal die tschetschenische Polizei der pro-russischen Regierung erhielt Zutritt. In Duba-Jurt sind Säuberungen noch im Gang.

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