Witwen in Afghanistan: Die Stadt der „Kopffresserinnen“
In Kabul haben sich Witwen einen eigenen Stadtteil gebaut. Gesellschaftlich haben sie keinen Schutz, hier gewinnen sie Respekt zurück.
Niemand in Kabul weiß, wann Sanabad entstand. In der Landessprache Dari bedeutet der Name „von Frauen errichtet“ oder auch „Frauenstadt“. Weder die Witwen noch die örtlichen Behörden erinnern sich, wann Frauen den ersten Stein für die Siedlung legten. Es soll während des politischen Chaos Anfang der 1990er Jahre gewesen sein, als die Regierung des zuvor von der Sowjetunion gestützten Präsidenten Nadschibullah zusammenbrach.
Die Zahl der Witwen in Afghanistan ist hoch. Offizielle Daten gibt es nicht. Schätzungen gehen von 1,5 bis 2,5 Millionen Betroffenen im Land – und damit über 10 Prozent der Bevölkerung – aus.
Der Zusammenbruch nach der sowjetischen Besetzung schuf neben allem Chaos auch Freiräume. Regierungseigenes Land, wie der steinige Hügel am damaligen südöstlichen Stadtrand von Kabul, auf dem Sanabad zu wachsen begann, war auf einmal herrenlos. Sanabad wurde Teil eines Viertels namens Karte-ja Nau (“neues Quartier“), auch dies eine Ansiedlung von Bürgerkriegsflüchtlingen.
Heute hat Karte-ja Nau vielleicht eine Million Einwohner und liegt fast zentral in Kabul, diesem von Binnenflüchtlingen wohl auf vier Millionen Einwohner gewachsenen Moloch ohne adäquate Infrastruktur.
Vor 70 Jahren berieten sich auf der Potsdamer Konferenz Sowjets, Amerikaner und Briten über die Zukunft Deutschlands. Heute leben viele ihrer Enkel in Berlin. Drei von ihnen haben wir getroffen. Das Gespräch lesen Sie in der taz.am wochenende vom 17./18. Juli 2015. Außerdem: Lange Beine, pralles Dekolleté? Alles von gestern. Die neuen weiblichen Schönheitsideale sind die Oberschenkellücke und die Bikini-Bridge. Über den Wahn von Selfie-Wettbewerben im Internet. Und: In Kabul haben sich Witwen einen eigenen Stadtteil gebaut. In der Gemeinschaft gewinnen sie Respekt zurück. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Verstoßen und beleidigt
Irgendwann Anfang des neuen Jahrtausends kam Bibi ul-Zuqia, Mitte 60 ist sie und wird von allen nur Bibikoh, Großmutter der Berge, genannt, nach Sanabad. Sie wurde zum Motor der ungewöhnlichen Frauengemeinschaft dort. Bibikohs erster Ehemann starb, als eine Rakete in ihr Haus einschlug. Das war in Parwan, einer Provinz nördlich von Kabul. Ihr zweiter Mann, ein Bruder des ersten und Kämpfer bei den Mudschaheddin, starb im Krieg.
Ihre zweite Witwenschaft veränderte Bibikohs Status. Plötzlich galt sie als schlechtes Omen und verlor, trotz ihrer sechs Kinder, den Respekt und die Unterstützung der Verwandten. Sie nannten sie kala-khor, Kopffresserin. Man stieß sie aus der Gemeinschaft aus.
Frauen in Afghanistan werden über Männer definiert. Vor der Hochzeit ist eine Frau die Tochter des Vaters, danach die Ehefrau des Mannes. Sie ist Besitz, sogar Ware, und sie verkörpert die „Ehre“ der Familie, die unbedingt beschützt werden muss. Verwitwete Frauen werden deshalb in den Augen der Gesellschaft zu Frauen „ohne Identität“ – und damit ohne Schutz; sie werden zu deg-e be-sarposch – Töpfen ohne Deckel. Witwen gelten als wirtschaftliche Belastung. Diese Einstellung verstärkt sich noch in Kriegszeiten, wenn Familien unter zusätzlichem Druck geraten.
Bibikohs Leben nahm eine neue Wendung, als ihr eine befreundete Witwe von Sanabad erzählte und sie ermutigte, sich der dortigen Frauengemeinschaft anzuschließen. Für 5.000 Afghani Schmiergeld – etwa 100 Dollar und viel für eine Witwe – an die örtliche Polizei, die ein Waffendepot auf dem Hügel bewachte, wurde ihr erlaubt, sich ein Stück Land zu nehmen und ihr Haus darauf zu bauen. Zwei Zimmer hat es, gekocht wird in einer Ecke. Bibikoh erinnert sich, wie schwer es war, vor allem am Anfang. Ein ungeschriebenes Gesetz sagt, wenn man über Nacht die vier Wände des Hauses eineinhalb Meter hochzieht, darf die Regierung einen nicht mehr hinauswerfen.
Ohne gegenseitige Hilfe war das für die Witwen nicht zu schaffen. Eine von ihnen, die schüchterne Humaira, vielleicht Ende 30, nennt diese Zeit „bittere Medizin“. Die Bauarbeit „ist oft über meine körperlichen Kräfte” gegangen, aber ihr eigenes Haus in dieser Gemeinschaft zu errichten, habe sie auch „geheilt”, denn es habe ihr lebenslanges Obdach gegeben.
Bibikoh erzählt, dass die Frauen manchmal auch ihre Häuser verteidigen müssen. Sie selbst habe Steine auf Polizisten geworfen, als diese eine andere Witwe prügelten; manchmal versuchte die Polizei nämlich, die Frauen doch zu vertreiben. Manchmal, ergänzt Humaira, sei die Polizei aber auch ein Schutz. Ohne die nächtlichen Streifen am Waffenlager hätte sie sich nie sicher genug gefühlt mit ihren fünf Kindern. Es käme eben darauf an, wer Dienst habe.
Das bestimmte und unabhängige Auftreten der Witwen brach Tabus. Deshalb hätten auch andere Nachbarn anfangs den Kontakt vermieden. Manchmal wurden sie als Prostituierte beschimpft. Inzwischen aber respektiere man sich gegenseitig, schließlich lebten alle in ähnlich schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen.
Respekt den Witwen gegenüber stellte sich auch ein, weil Bibikoh anfing, die Witwen über den Hausbau hinaus zu organisieren. Über Jahre fanden Alphabetisierungskurse, aber auch Treffen, um alltägliche Ereignisse zu diskutieren, in ihrem Haus statt. Die Frauen saßen dabei auf dem Boden.
Zwei Gemeindepolizistinnen
Die Lebensbedingungen waren schwierig. Damals gab es in Sanabad weder Wasser noch Strom. Wasser mussten sie unten holen und die steilen Hügel hinaufschleppen, über unbefestigte, lehmige Wege, die bei Regen matschig und kaum zu bewältigen sind.
Bibikoh fand zudem Sarghuna, eine Lehrerin, die mithilfe von Care International, einer NGO, Kurse in Gesundheitsversorgung gab. Aus zwölf Witwen bestand Bibikohs Kerngruppe. Sie unterstützten die Neuankömmlinge auf dem Hügel und organisierten mit der NGO Lebensmittelhilfen – Mehl, Öl und Bohnen – für die besonders Bedürftigen. Elf Jahre lang hätten um die 400 Witwen von dieser Hilfe profitiert. Die Arbeit gab Bibikoh verlorenen Respekt zurück.
Sarghuna, die Lehrerin, die den Witwen vom Berge das Lesen und Schreiben beibrachte, meint, dass die Treffen der Frauen auch psychologisch wichtig gewesen seien. So hätten sie über die schmerzhaften Geschichten ihres vergangenen Lebens sprechen können. Dass sich die Frauen in Sanabad sicher fühlten, ergänzt Humaira, habe ein Gefühl von „Schwesterlichkeit“ entstehen lassen. Neu Ankommende, darunter nicht nur Witwen, sondern auch geschiedene Frauen, die sich oft besonderen Anfeindungen ausgesetzt sehen, wurden den Tag über – manchmal auch des Nachts – bei all ihrem Tun begleitet. Anisa, eine andere Witwe, meint, mit dem geteilten Schmerz und der gemeinsamen Arbeit seien die Frauen sarposch, Schutzdeckel, füreinander geworden.
Die Siedlung von Sanabad ist inzwischen auf 500 Witwen- und 500 andere Haushalte angewachsen. Viele der Witwen, nun alphabetisiert, haben reguläre Jobs gefunden. Einige arbeiten als Haushaltshilfen, andere bereiten traditionelle Speisen zu und verkaufen sie auf Märkten. Eine Handvoll unterrichtet an der Mädchenschule von Sanabad. Bibikoh und Anisa sind inzwischen sogar bei der Regierung angestellt als eine Art Gemeindepolizistinnen. Nur wenige müssen noch auf den Straßen betteln.
Offizielle Landttitel fehlen
Die Siedlung wirkt heute farbenfroh. Die Häuser sind gestrichen. In Bibikohs Haus liegen rote afghanische Teppiche. Aber die Fenster sind immer noch mit Plastikfolien bedeckt; Glas ist zu teuer. Draußen wurde ein Großteil des Kriegsschrotts weggeräumt – Wracks von Panzern, Geschützen und Raketenwerfern.
Humaira hofft, von Nachbarn Land kaufen und darauf ein zweites Haus für ihre Eltern bauen zu können. Anisa hat ihr Zweithaus schon fertig und vermietet es für 3.000 Afghani (60 Dollar). Im vorigen Jahr hat die Regierung auch Wasser- und Stromanschlüsse auf den Hügel gelegt und die Mädchenschule übernommen. Damit erkannte sie das Recht der Witwen an, offiziell dort zu leben. Nur die Straße auf dem Hügel ist immer noch staubig, steil und schwer zu begehen.
Bibikoh sagt, man sei dabei, die Regierung zu bewegen, den Frauen offizielle Landtitel zu geben. Dann, so hofft sie, würde das Viertel auch im offiziellen Stadtplan eingetragen. Das würde Sanabad vollständig legalisieren.
Übersetzung und Bearbeitung: Thomas Ruttig
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind