Wissenschaftsrat über Friedensforschung: „Da steckt viel Beratung drin“
Friedens- und Konfliktforschung muss gestärkt werden, findet der Wissenschaftsrat. Silviana Galassi erklärt, warum das Forschungsfeld wichtig ist.
taz: Frau Galassi, der Wissenschaftsrat plädiert für mehr überregionale Friedens- und Konfliktforschung. Mit was beschäftigt sich dieses Forschungsfeld?
Silviana Galassi: Die Friedens- und Konfliktforschung bearbeitet ein sehr breites Themenspektrum. Vereinfacht ausgedrückt reicht es von Konflikten und Gewaltphänomenen im sozialen Nahraum, also auf dem Schulhof oder in der Hooliganszene, bis hin zu staatlichen Konflikten und Kriegen. Wodurch werden Konflikte ausgelöst, wie entwickelt sich deren Dynamik und wie eskalieren sie? Vor allem ist natürlich auch die Frage zentral, wie die Konflikte beigelegt und Frieden dauerhaft stabilisiert werden kann.
Wie gehen die WissenschaftlerInnen solch schwierigen Fragen auf den Grund?
In Deutschland sind in dem Forschungsfeld qualitative Einzelfallstudien mit teilnehmender Beobachtung vor Ort sowie verschiedenen Interviews in Konfliktregionen besonders ausgeprägt. Im internationalen Vergleich, also hauptsächlich den USA, dominieren derzeit allerdings vermehrt quantitative Erhebungen. Dabei werden zum Beispiel Zeitungen und Twitter-Feeds ausgewertet, um anhand der Häufigkeit bestimmter Stichworte einen Eindruck davon zu bekommen, ob eine Situation eskaliert.
Hinkt Deutschland im internationalen Vergleich in der Konfliktforschung hinterher?
Nein. Gemessen an der Anzahl an Einrichtungen, die sich damit beschäftigen, ist Deutschland besser aufgestellt als die europäischen Nachbarn. Derzeit gibt es an sechs Universitäten Studiengänge und deutschlandweit 32 Professuren zur Friedens- und Konfliktforschung. Das Forschungsfeld wird im Vergleich zu anderen Ländern in Deutschland sehr viel praxisorientierter gehandhabt. Zum Beispiel in der Ukraine-Krise: Um da Beratungsleistungen zu erbringen und zu erwägen, wie man die Konfliktparteien an einen Tisch bekommt, sind qualitative Studien von Vorteil. Die WissenschaftlerInnen sprechen also selbst mit AkteurInnen, um die Konfliktursachen besser zu verstehen und Mediationsangebote aufsetzen zu können.
Die Ukraine-Krise ist einer von vielen Brennpunkten. Die „Doomsday Clock“, die die Gefahr eines Atomkriegs abwägt, steht auf zwei Minuten vor Zwölf. Wie wichtig ist in dieser Zeit die Friedens- und Konfliktforschung?
Sehr wichtig, auch wenn es schwierig ist, die Effekte unmittelbar und eindeutig dem Fach zuzuschreiben, wodurch sie leider nicht sonderlich sichtbar für die Öffentlichkeit sind. Wenn die USA das Atomabkommen aufkündigen und Iran wieder Uran anreichert, braucht es WissenschaftlerInnen, die einordnen, bis zu welchem diese Anreicherungen noch im grünen Bereich sind. Es gibt viele Länder, wo Konflikte nicht aufgekocht sind, weil man frühzeitig mit Entwicklungspolitik interveniert – da steckt viel Beratung drin, die nach außen nicht sichtbar wird. Auch in der Frage von Programmen zur Deradikalisierung, also im Spektrum des Extremismus und Terrorismus, hat die Friedens- und Konfliktforschung wichtige Hinweise gegeben.
Seit wann gibt es das Forschungsfeld überhaupt?
Angefangen hat das Interesse in der Wissenschaft in den 50er-Jahren, als die Bundesregierung eine atomare Wiederbewaffnung der Bundeswehr erwog. Carl Friedrich von Weizsäcker hatte eine ganze Reihe von Physikern zusammengetrommelt, die politisch dagegen vorgegangen sind – darauf entwickelten sich die ersten Forschungsaktivitäten. Einen richtigen wissenschaftlichen Aufschwung gab es Anfang der 1970er-Jahre. Bereits zuvor hatte Gustav Heinemann als Bundespräsident in seiner Antrittsrede gesagt, die Friedensforschung müsse gestärkt werden, was auch Willy Brandt in seine Regierungserklärung aufnahm. Damals hat sich das vor allem außeruniversitär entwickelt, in enger Verbindung mit der Friedensbewegung.
Die Friedensbewegung wurde heftig kritisiert – hat das dem Forschungsfeld geschadet?
Tatsächlich wurde in den Kohl-Jahren die staatliche Unterstützung auf Bundesebene zurückgefahren. Die Forschung versuchte sich zu entideologisieren und sukzessive von der Bewegung loszulösen, damit sie als empirische Wissenschaft ernst genommen wird. Das ist – so sieht es auch die Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrats – der Fachrichtung gut gelungen. Einen weiteren Schub erfuhr die Entwicklung unter der rot-grünen Bundesregierung, als 2000 die Deutsche Stiftung Friedensforschung ins Leben gerufen und die Friedens- und Konfliktforschung breiter an der Universitäten verankert wurde.
ist stellvertretende Leiterin der Evaluationsabteilung des Wissenschaftsrats. Die 52-Jährige unterstützt die Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrats und hat die aktuelle Empfehlung mitformuliert.
Der Wissenschaftsrat: Das wichtigste wissenschaftspolitische Beratungsgremium Deutschlands wurde 1957 gegründet. Die Kommission besteht aus 24 WissenschaftlerInnen und acht VertreterInnen von Bund und Ländern
Die Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrats empfiehlt nun die Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung, konkret durch ein Förderprogramm. Warum ist das notwendig?
Wir hören aus dem Feld der WissenschaftlerInnen, dass die Friedens- und Konfliktforschung noch effektiver werden könnte, wenn sie überregional besser zusammenarbeiten würde. Diese Einschätzung teilt der Wissenschaftsrat. Ein zeitlich befristetes Förderprogramm könnte bei der Vernetzung der WissenschaftlerInnen helfen und Strukturen etablieren, die deren Zusammenarbeit vereinfacht. Insbesondere die naturwissenschaftlich-technische Forschung muss noch gestärkt werden.
Was versprechen Sie sich davon?
Da geht es um Abrüstungskontrolle oder auch auch um die Frage, wie Deutschland mit Cyberattacken umgehen kann. Wie verändern sich Konflikte, wenn anstelle von SoldatInnen unbemannte Kampfroboter und Drohnen vor Ort die Kriege führen? SozialwissenschaftlerInnen können sich da bis zu einem gewissen Grad äußern, zum Beispiel zu völkerrechtlichen oder ethischen Fragen. Aber die Vernetzung mit InformatikerInnen und PhysikerInnen muss in diesem Bereich noch gestärkt werden.
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