Wissenschaftlerin über Hamas-Führung: „Al-Sinwar frisst Hanija auf“
Ismail Hanija ist der neue Chef des Hamas-Politbüros. Er bestimmt somit deren Politik, doch die Realität sieht anders aus, sagt Ronit Marzan.
Die Hamas hat am Wochenende Ismail Hanija zum neuen Chef des Politbüros gewählt. Erst im Februar ist Jijia Al-Sinwar zum Hamas-Chef im Gazastreifen gewählt worden. Wie verteilen sich die Zuständigkeiten der beiden Männer?
Ronit Marzan: Hanija ist als Chef des Politbüros theoretisch derjenige, der die Politik der Hamas insgesamt bestimmt. Leider müssen wir beobachten, dass die lokale Hamas-Führung im Gazastreifen unter Al-Sinwar de facto den Ton in der Bewegung angibt. Al-Sinwar gelingt es, der politischen Führung die Grundsätze der Kassambrigaden, dem militärischen Flügel der Hamas, aus dem er selbst kommt, aufzuzwingen. Hanija, der nach den gewonnen Wahlen 2006 für kurze Zeit palästinensischer Regierungschef war, ist im Grunde eine eher graue Figur und ein schwacher politischer Führer. Al-Sinwar wird sich dafür starkgemacht haben, dass Hanijah auf den Posten des Politbürochefs gewählt wird, eben weil er so schwach ist.
Sie sagen, dass Al-Sinwar für den radikaleren Weg steht und gleichzeitig der starke Mann in der Hamas ist. Wie erklären Sie dann die jüngst erweiterte Hamas-Charta, die zum ersten Mal von der Gründung des Staates Palästina in den Gebieten von 1967 anstatt in ganz Palästina, Israel inbegriffen, spricht?
Die Änderungen gehen auf den scheidenden Politbürochef Chaled Maschaal zurück, der, wie ich vermute, eng mit Asmi Bischara zusammenarbeitet. Bischara ist palästinensischer Philosoph, und er war israelischer Abgeordneter, der unter dem Verdacht der Spionage polizeilich gesucht wird und in Katar Exil fand. Wenn wir die Interviews von Maschaal und Bischara vergleichen, dann fallen viele Parallelen auf. Maschaal lernt von Bischara. Er spricht von „Falsafa“, von einer „Philosophie“ des Kampfes, wenn er die neue Charta präsentiert. So ein Begriff passt nicht zu einem Mann, der von Beruf Ingenieur ist, es sei denn, er lässt sich von einem Philosophen beraten.
Maschaal spricht von einem neuen, moderateren Weg, der eine Brücke darstellen soll zwischen der ethnisch-religiösen Radikalisierung, wie die IS sie repräsentiert, einerseits, und die auf Dialog und Kompromiss ausgerichtete Politik der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) im Westjordanland auf der anderen Seite. Die Hamas will etwas Neues bringen. Sie sagt Ja zu einem Staat in den Grenzen von 1967, gleichzeitig will sie nicht auf den bewaffneten Kampf verzichten, weil, so argumentiert Maschaal, Israel nur durch den bewaffneten Kampf zu Kompromissen gezwungen werden kann. Damit hat er recht, wie ich denke. Die Gewalt hat Israel aus dem Gazastreifen gezwungen. Aber Maschaal signalisiert eine neue Offenheit dem Westen gegenüber auch indem sich die Hamas offiziell von den ägyptischen Muslimbrüdern lossagt.
Wie sollte Israel darauf reagieren?
58, ist Dozentin für Nahost-Geschichte an der Schule für Politische Bildung der Universität Haifa.
Israel täte gut daran, die Hamas in den politischen Prozess einzubeziehen anstatt sich ausschließlich auf die PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) und die Führung im Westjordanland zu beschränken. Chaled Maschaal hat, wie ich denke, den Posten des Politbürochefs aufgegeben, um sich auf sein nächstes Ziel zu konzentrieren: Regierungschef in den Palästinensergebieten, Seite an Seite mit einem Präsidenten, der von der Fatah gestellt wird. Aus israelischer Sicht wäre es jetzt schon sinnvoll, wenn Maschaal aus dem Exil zurück in den Gazastreifen zieht, um dort gemeinsam mit Hanija einen Gegenpol zu dem radikaleren Al-Sinwar zu bilden.
Glauben Sie, dass mit Hanija als Politbürochef eine Beilegung des Konflikts zwischen Fatah und Hamas möglich sein wird?
Fatah und Hamas werden ohne Zutun aus dem Ausland zu keiner Einigung kommen. Hier fällt US-Präsident Donald Trump eine wichtige Rolle zu. Er sollte zunächst zwischen Katar und Ägypten vermitteln, denn die Regierung in Doha ist Schirmherr der Hamas und die Regierung in Kairo steht auf der Seite der Fatah. Eine Versöhnung zwischen Katar und Ägypten ist Voraussetzung für ein Zusammengehen der beiden großen palästinensischen Fraktionen und eine Einheitsregierung von Fatah und Hamas.
Der scheidende Politbürochef Chaled Maschaal hat vom Exil aus regiert. Inwiefern spielt es eine Rolle, dass sein Nachfolger ein Politiker ist, der selbst im Gazastreifen lebt?
Maschaal sitzt in Katar, direkt neben dem Finanzhahn, durch den die Regierung in Doha die Gelder in den Gazastreifen fließen lässt. Einen Politiker an die Spitze der Bewegung zu bringen, der im Gazastreifen lebt, ist ein Signal, dass man das Machtzentrum im Gazastreifen haben will und nicht im Exil. Denkbar ist, dass Al-Sinwar versuchen wird, sich finanziell mehr Autonomie zu verschaffen, indem er einen direkten Draht zur iranischen Führung aufbaut. Ich hoffe sehr, dass Maschaal bald in den Gazastreifen zurückkehr und Hanija den Rücken stärkt. Wenn Hanijah allein bleibt, frisst ihn Al-Sinwar zum Frühstück.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Verfassungsrechtler für AfD-Verbot
„Den Staat vor Unterminierung schützen“