Wirtschaftsweiser über Lohnpolitik: "Merkels Plan ist unrealistisch"
Der Versuch, die europäische Lohn- und Rentenpolitik zu vereinheitlichen, wird nicht funktionieren, sagt der Essener Wirtschaftsweise und Arbeitsmarktexperte Christoph Schmidt.
taz: Kurz vor dem Euro-Gipfel haben Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit Griechenlands, aber auch Spaniens herabgestuft. Die Eurokrise könnte in ihre nächste Runde gehen. Was raten Sie Bundeskanzlerin Angela Merkel: Soll Deutschland verschuldete Eurostaaten mit noch mehr Geld unterstützen?
Christoph Schmidt: Augenblicklich sehe ich dafür keinen Bedarf. EU und Eurozone sollten Standfestigkeit beweisen. Erstens geht es darum, dass verschuldete Staaten sich möglichst aus eigener Kraft sanieren. Und zweitens gibt es für den Notfall bereits ausreichende Hilfsangebote.
Die Bundestagsfraktionen von Union und FDP haben sich dagegen ausgesprochen, dass der europäische Rettungsfonds EFSF als neue Hilfsmaßnahme Anleihen verschuldeter Staaten aufkauft. Ist das richtig oder falsch?
CHRISTOPH SCHMIDT (48) leitet das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen. Außerdem ist er Mitglied des Sachverständigenrats für Wirtschaft (Fünf Weise).
Den Aufkauf von Anleihen oder auch die Ausgabe gemeinsamer europäischer Verschuldungspapiere halte ich für einen schlechten Weg. Dadurch würde man falsche Anreize setzen. Für Griechenland, Irland und andere Staaten sänke der Druck, aus eigener Kraft zu sparen.
Aber auch heute schon leiht sich der Rettungsfonds Geld an den internationalen Kapitalmärkten. Das kommt einer gemeinsamen europäischen Verschuldung gleich. Offizielle Euroanleihen würden also keinen prinzipiellen Unterschied machen …
Doch. Mit dem Rettungsfonds haben die Regierungen einen zeitlich begrenzten Hilfsmechanismus etabliert, weil Not an Mann war. Etwas anderes wäre es, die gemeinsame Verschuldung zeitlich unbefristet auszudehnen. Diese Sünde sollten wir in keinem Fall begehen.
Die griechischen Schulden steigen in Richtung von 150 Prozent der Wirtschaftsleistung. Dass das Land diese Belastung aus eigener Kraft auf ein verträgliches Niveau senken kann, scheint unwahrscheinlich. Verschließen Sie davor nicht die Augen?
Dass die Sanierung schwierig wird, war klar. Vielleicht dauert sie auch länger als bis 2013. Aber sie erscheint zumindest möglich. Jedenfalls müssen die griechische Regierung und Bevölkerung den ernsthaften Versuch unternehmen, es selbst zu schaffen. Die Anstrengung, zum Beispiel die Renten zu senken und außerdem die Kosten des öffentlichen Dienstes zu verringern, sollten wir ihnen wirklich nicht abnehmen.
Sind Sie so zurückhaltend, weil Sie befürchten, dass irgendwann auch starke Staaten wie Deutschland mit zu viel Hilfe überfordert wären?
So weit sind wir noch lange nicht. Wir haben die Schuldenbremse, Staat und Wirtschaft funktionieren gut. Aber im Extremfall kann zu hohe Verschuldung auch für reiche, produktive Länder ein Problem werden. Wenn wir allen helfen würden, kämen auch wir irgendwann an die Grenze unserer Kräfte.
Merkel schlägt der EU einen Pakt für Wettbewerbsfähigkeit vor. Um eine zu hohe Verschuldung künftig zu vermeiden, sollen die Euroländer Renten und Löhne senken. Klingt das nicht nach "Hartz IV für ganz Europa"?
Das ist sehr zugespitzt. Merkels Plan erscheint theoretisch plausibel, in der Praxis aber ziemlich unrealistisch. Die Kanzlerin hegt offenbar die Idee, dass jede Euroregierung so vernünftig ist, sich an gemeinsame Leitlinien zu halten. Aber wie soll das funktionieren? Soll der EU-Rat Empfehlungen für die Entwicklung der Löhne in den Mitgliedstaaten geben? Die Tarifpartner in den einzelnen Staaten werden sich dagegen wehren.
Die grassierende Staatsverschuldung, so heißt es, treibe die Inflation an. Müssen wir uns in Deutschland langsam Sorgen machen?
Augenblicklich nicht. Unser Institut erwartet Preiserhöhungen von leicht über 2 Prozent. Das hält sich im Rahmen. Und solange die Gewerkschaften keine überzogenen Forderungen durchsetzen, die deutlich über den Produktivitätsfortschritt in der Branche hinausgehen, sehe ich keine Gefahr. Klar ist aber auch, dass die Arbeitnehmer am Zuwachs teilhaben wollen, wenn die Wirtschaft floriert.
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