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„Wir sind hier für alle die Sündenböcke“

Arbeitsverbote, Polizeiwillkür, Alltagsrassismus: Mi­gran­t*in­nen inRussland sind starken Repressionen ausgesetzt. Seit dem Anschlag auf eine Konzerthalle bei Moskau hat sich die Lage noch verschärft

Migrantinnen bei einer Razzia in Russland Fotos: Itar-Tass/imago

Aus Moskau Inna Hartwich

Seine Dokumente hat er in eine grünlicher Mappe verpackt. Er hat sie immer dabei: den übersetzten und notariell beglaubigten Pass, den Führerschein, die örtliche Registrierung, die Arbeitsbewilligung, die Autoversicherung, den Mietvertrag, ja, auch die Eheurkunde und die Geburtsurkunden der drei Kinder, ebenfalls übersetzt und notariell beglaubigt.

„Man muss auf alles gefasst sein“, sagt Mirsoali. Der Mittvierziger reagiert vorsichtig auf Fragen von Fremden. Den Nachnamen will er nicht nennen, das will dieser Tage ohnehin kaum einer in Russland, wenn er von ausländischen Jour­na­lis­t*in­nen angesprochen wird.

Die Menschen misstrauen allen und allem. Seit Russland den Krieg in der Ukraine begonnen hat und Russlands Präsident Wladimir Putin ein repressives Gesetz nach dem anderen unterzeichnet, ist die Gesellschaft nahezu verstummt. Mirsoali, der Taxifahrer aus Tadschikistan, erzählt nach einer kurzen Pause von seiner Arbeit, seinem Leben in Russland. „Ich überlege zu gehen. Zu viel Erniedrigung, zu viele Kontrollen, immer die Sorge, dass wieder ein neues Gesetz das Leben erschwert.“

Seit am Abend des 22. März 2024 vier Bewaffnete der Terrormiliz „Islamischer Staat Provinz Khorasan“ (ISPK) die Konzerthalle Crocus City Hall bei Moskau stürmten und mehr als 140 Menschen töteten, sieht Russland in jedem Migranten ­einen potenziellen Kriminellen.

In nahezu allen Regionen werden die Migrationsgesetze laufend verschärft. Kinder aus Migrantenfamilien, die „nicht genügend“ Russisch sprechen, dürfen keine Schule besuchen. Sind sie aber nicht in der Schule, will der Staat die Eltern des ­Landes verweisen. Dass solche Gesetze gegen die russische Verfassung verstoßen und auch gegen die Genfer Kinderrechtskonvention, scheint im Land kaum jemanden zu interessieren.

Wer die Sprachtests für Kinder abnimmt und nach welchen Kriterien – auch das ist nicht eindeutig geklärt. Die Familien bleiben auf sich allein gestellt. Die Digitalisierung erschwert zudem ihr Leben, da das System der sogenannten ­„staatlichen Dienstleistungen“, über die die Bürokratie im Land mittlerweile läuft, primär für russische ­Dokumente gemacht wurde. Bei ausländischen Passnummern treten oft unerwartete Probleme auf, die die Angestellten in den Behörden nicht lösen können.

Die Liste der Repressionen ist lang. Aufenthaltsgenehmigungen werden nur mühsam erteilt. In Moskau und im Moskauer Umland soll in wenigen Wochen eine Pflicht-App für Mi­gran­t*in­nen getestet werden, durch die die Behörden stets über den Aufenthaltsort informiert werden.

Seit Herbst 2024 gibt es in 51 der mehr als 80 Regionen in Russland Arbeitsbeschränkungen für Arbeitsmigrant*innen. Mal dürfen sie nicht in Bildungseinrichtungen oder in der Gesundheitsversorgung arbeiten, mal nicht als Koch oder Bedienung im Gaststättengewerbe tätig sein. In den meisten Orten aber trifft es Taxifahrer und Kuriere.

Erst kürzlich hat die Stadt Sankt Petersburg ein Arbeitsverbot für migrantische Taxifahrer und Kuriere eingeführt, die ein sogenanntes „Patent“ besitzen. Das ist die Arbeitserlaubnis für alle (mit ein paar Ausnahmen), die visafrei nach Russland einreisen dürfen, vor allem für Menschen aus ehemaligen Sowjet­republiken in Zentral­asien.

Das Verbot aber funktionierte nicht. Die örtliche Wirtschaft schlug Alarm, die Stadtverwaltung sprach davon, dass die Einführung des Gesetzes „auf unbestimmte Zeit“ verschoben worden sei. Auch andere Regionen rudern zurück. Denn Ar­beits­mi­gran­t*in­nen sind auch in Russland vor allem billige Arbeitskräfte, auf die die Menschen im Land nicht verzichten wollen. Laut Statistiken machen sie in manchen Branchen zwischen 50 und 70 Prozent der Belegschaften aus.

„Für die Leute hier sind wir immer die Sündenböcke. Für Drecksjobs sind wir immer gut genug“, sagt der Moskauer Taxifahrer Mirsoali. Wenn der Staat jemanden wofür auch immer bestrafen wolle, seien die Ar­beits­mi­gran­t*in­nen ebenfalls die Ersten, die in Verdacht gerieten, sagt Mirsoali. Vor mehreren Jahren kam er aus Tadschikistan nach Russland, wollte hier Geld verdienen, seinen Kindern in der Heimat eine bessere Ausbildung ermöglichen.

Er ging erst auf den Bau, arbeitete dann als „Mädchen für alles“ in Privathaushalten („Gärtnern, allerlei Reparaturarbeiten, so was“), fing schließlich an, Taxi zu fahren. „Ein guter Job eigentlich, aber es wird immer schwieriger. Der Rubel ist schwächer geworden, die Kontrollen stärker.“

Aller „Wir sind ein Viel­völker­staat“-Sprüchen zum Trotz: Das Leben als „Nicht-Slawe“, wie die Rus­s*in­nen sagen, zudem mit einem nicht russisch klingenden Namen, war in Russland noch nie einfach. Der Alltagsrassismus ist tief verankert in der russischen Gesellschaft. Nord­kau­ka­sie­r*in­nen werden oft als „Schwarzärsche“ beschimpft.

Die Menschen brüllen sie an und werfen ihnen vor, sie verstünden kein Russisch. Sie schreien und sagen: „Geh doch zu dir nach Hause!“ Dabei sind die Angeschrienen genauso in Russland zu Hause wie die, die sie anschreien.

„Ich überlegezu gehen. Zu viel Erniedrigung, zu viele Kontrollen, immer die Sorge, dass wieder ein neues Gesetz das Leben erschwert“

Mirsoali, Taxifahrer in Moskau, der aus Tadschikistan stammt

Auch Nordkaukasier*innen, Jakut*innen, Burjat*innen, Kal­mück*in­nen und so viele andere, die angeblich nicht russisch aussehen, sind russische Staats­bür­ge­r*in­nen und müssen sich täglich gegen rassistische Sprüche und Überprüfungen durch Po­li­zis­t*in­nen wehren.

Mi­gran­t*in­nen aus Zentralasien haben es da ungleich schwerer. Offizielle Statistiken zufolge sind etwa neun Millionen legale und illegale Mi­gran­t*in­nen im Land, etwa ein Drittel von ihnen soll aus Tadschikistan kommen.

„Ich schufte und verhalte mich immer unauffällig. Aber das reicht nicht. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich schon angehalten worden bin“, sagt Mirsoali. „Sie sind überall und könnten nach allem möglichen fragen.“

„Sie“, das sind die Polizisten, die jeden Migranten und jede Migrantin auf den Straßen anhalten und alle möglichen Dokument verlangen können. Immer wieder kommt es zu Durchsuchungen von Hostels, wo Sicherheitskräfte Mi­gran­t*in­nen vermuten.

Erst vor wenigen Tagen nahmen Po­li­zis­t*in­nen in Moskau 500 Menschen aus Zentralasien fest, 30 von ihnen wurden ausgewiesen, da sie sich illegal im Land aufgehalten haben sollen. Der Innenminister Wladimir Kolokolzew will „nur nützliche Migranten“, wie er kürzlich sagte, keine, die den Job verloren oder die Uni-Prüfung nicht bestanden hätten.

Immer alle Papiere dabei haben müssen Foto: Fo­to: Itar-tass/imago

Selbst für eine Telefon-Sim-Karte müssen sich nun alle Aus­län­de­r*in­nen im Land – auch Tou­ris­t*in­nen – einer Über­prüfung der Behörden stellen. Die, die im Land leben, brauchen dafür eine ­Versicherungs­kontonummer, die der Pensionsfonds ausstellt, müssen im digitalen „staatliche Dienstleistungen“-Register angemeldet sein und biometrische Daten bei einer Bank abgegeben haben. Ein Gesetz verpflichtet alle Aus­län­de­r*in­nen dazu, sonst wird die ­vorhandene Nummer abgestellt, eine neue nicht erteilt. In speziellen Zentren, meist am Rande der Städte, müssen sie die Dokumente überprüfen lassen.

In einem solchen Zentrum in Moskau verteilen sich Hunderte Menschen auf vier Etagen. „Hey, raffst du es nicht auf Russisch?“, brüllt eine Angestellte einen ­Usbeken an.

Jedem hier wird gezeigt, dass er nicht willkommen ist. „So werden wir immer behandelt, als Störenfriede, nicht als Menschen“, sagt ein Doppelstaatler, der einst aus Tadschikistan kam, mittlerweile aber russischer Staatsbürger ist und seinen russischen Pass neu beantragen muss. Wichtig für die Angestellte ist, dass er seinen Wehrpass dabei und sich auch ja bei der Militärbehörde gemeldet hat.

Der Mann kramt in seiner ­Dokumentenmappe. „Man muss auf alles gefasst sein hier“, sagt er – genau wie ­Mirsoali, der mit seinem gelben Taxi bereits zum nächsten Auftrag ­unterwegs ist.

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