: „Wir haben nur Slogans gedichtet“
Vier Wochen nach den Protesten gegen den G-8-Gipfel in Genua sitzen noch immer 41 Personen in italienischer Haft. In Berlin haben Eltern betroffener Kinder eine Initiative gegründet. Noch haben die ehemaligen 68er Vertrauen in staatliche Organe
Interview HEIKE KLEFFNER
Sind Sie eigentlich zufrieden mit den Reaktionen von deutschen Politikern und Vertretern der Bundesregierung auf die Ereignisse in Genua?
Gundula Bölke-Zeuner und Bodo Zeuner: Welche Reaktionen? Ist da was gesagt worden?
Hannelore Kutschkau: Meine Hauptforderung ist deshalb jetzt die Einsetzung einer Europäischen Untersuchungskommission. Darin unterscheide ich mich vielleicht von den Betroffenen, die da anders denken. Ich habe noch etwas Vertrauen in staatliche Organe – in diesem Fall auf europäischer Ebene.
Bodo Zeuner: Ich bin empört über die Sprüche des Stammtischkanzlers, der in Genua von „Krawalltouristen“ geredet und seitdem geschwiegen hat. Genauso empörend finde ich, dass Innenminister Otto Schily nichts anderes zu tun hat, als mit seinem italienischen Amtskollegen, der immerhin für die unglaublichen Menschenrechtsverletzungen in Genua verantwortlich ist, über eine Anti-Krawall-Polizei auf europäischer Ebene zu reden. So ein Minister muss zurücktreten, und es ärgert mich, dass diese Forderung noch nicht gestellt wurde.
Gundula Bölke-Zeuner: Von Regierungsseite hat niemand auf den Brief der Elterninitiative reagiert, in dem wir darum baten, sich mit Nachdruck um eine Aufklärung zu bemühen.
Bodo Zeuner: Bis auf Berlins Justizsenator Wolfgang Wieland. Der hat deutliche Worte gefunden und von systematischer Brutalität der Polizei in Genua gesprochen.
Ihre Weggefährten aus den Tagen der 68er Bewegung sitzen in der Regierung, aber Ihre Kinder werden gerade von dieser Regierung im Stich gelassen. Bedeuten die Nachwehen von Genua für Sie eine politische Zäsur?
Hannelore Kutschkau: Ich habe mich einfach geschämt, dass unsere Kinder demonstrieren und wir zu Hause sind. Und die 16 Stunden vor dem Gefängnis in Italien haben einiges angestoßen. Ich werde jetzt sehr genau darauf achten, wer wie Stellung bezieht.
Gundula Bölke-Zeuner: Wenn die Bundesregierung es absolut nicht fertig bringt, sich noch einmal dazu zu äußern, dann ist das schon ein Einschnitt. Aber diese Entwicklung hat schon im Vorfeld von Genua eingesetzt. Sowohl bei der SPD als auch bei den Grünen.
Heißt das, Sie hätten ohnehin nichts anderes erwartet?
Gundula Bölke-Zeuner: Das, was sich in Italien abgespielt hat, hätte ich in Mitteleuropa auf keinen Fall erwartet.
Hannelore Kutschkau: Dass Polizisten Schlafende zusammenschlagen, war unvorstellbar. In Gesprächen mit Italienern fiel immer wieder der Vergleich mit Chile.
Bodo Zeuner: Die Reaktionen von Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer waren vorhersehbar. Nach 18 Jahren Mitgliedschaft bei den Grünen bin ich im vergangenen Jahr aus Protest gegen den Jugoslawien-Krieg und die neoliberale Politik ausgetreten. Andererseits bin ich positiv überrascht von einzelnen grünen Abgeordneten wie Christian Ströbele und Annelie Buntenbach, deren Engagement sehr wichtig war.
Daniel Cohn-Bendit sagt, die Grünen hätten die Globalisierungskritik verschlafen.
Bodo Zeuner: Absolut. Aber die derzeitige Generation der Grünen-Politiker steht für Regierungsverantwortung und Frieden mit dem Kapitalismus. Sie können nicht zurück, zwischen ihnen und den Demonstranten ist ein tiefer Graben. Die Grünen haben zu einem Zeitpunkt ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht, wo der seine weltweiten unangenehmen Seiten ganz deutlich zeigt.
Stimmen Sie mit den Forderungen Ihrer Kinder überein?
Bodo Zeuner: In Bezug auf Genua habe ich im Vorfeld meiner Tochter gesagt, dass ich die Forderung, den Gipfel zu verhindern, nicht verstehe. Schließlich werden ja Regulierungsstrategien benötigt. Dagegen zu demonstrieren, was auf dem Gipfel beschlossen und geplant wird, finde ich gut.
Hannelore Kutschkau: Wir streiten uns auch um Forderungen, die ich unrealistisch finde.
Bodo Zeuner: Manchmal wird mir zu viel Vertrauen in die Institutionen der politischen Systeme vorgehalten. Das findet meine Tochter illusionär oder reformistisch.
Trotzdem sind Ihre Töchter wahrscheinlich froh darüber, dass Sie sich engagieren.
Hannelore Kutschkau: Natürlich. Außerdem hat es in Italien eine wichtige Rolle gespielt, dass Angehörige nach dem Polizeieinsatz gegen die Schlafenden in der Diaz-Schule hingefahren sind. Die deutschen Demonstranten wurden dort als Schläger oder sogar Skinheads angesehen. Das Bild ändert sich schon, wenn man hört, dass wir informiert sind und uns kümmern.
Eigentlich ist man doch dann erst mal völlig hilflos.
Hannelore Kutschkau: Wir haben sofort beim Auswärtigen Amt und den offiziellen Stellen, dann beim Ermittlungsausschuss angerufen. Die Nummer war noch die gleiche wie früher.
Bodo Zeuner: Die Telefonate mit dem Auswärtigen Amt, dem deutschen Konsulat in Mailand und dem Bundeskriminalamt waren wegen ihres geringen Informationsgehalts eher verwirrend.
Hannelore Kutschkau: Der Mann beim BKA war immerhin sehr höflich. Als ich ihn gefragt habe, was seine Kollegen denn in der Sache machen, hat er gemeint, sie würden von der italienischen Polizei die Daten der Inhaftierten erhalten. Dass sie den italienischen Behörden dann geschützte Daten aus Deutschland weitergeben würden, hat er natürlich nicht gesagt.
Bodo Zeuner: Mir hat das BKA gesagt, sie hätten gar keine Übung darin, mit den Betroffenen zu reden. Und sie würden von den italienischen Kollegen auch keine Informationen bekommen. Da waren sie dann von meiner Telefonliste gestrichen.
Waren Sie geschockt, als Sie Ihre Töchter nach fünf Tagen Polizeigewahrsam und Haft sahen?
Hannelore Kutschkau: Die Erleichterung über die Freilassung hat fast alles überdeckt. Aber man merkte den beiden an, dass sie unglaublich terrorisiert waren, sehr geschwächt.
Gundula Bölke-Zeuner: Katharina hatte erst Essstörungen und wollte gar nichts essen. Wenn sie zwei Stunden etwas gemacht hatte, wurde sie ganz schnell müde. Ich sehe das schon als Folge der psychischen Erschütterung.
Bodo Zeuner: Sie hat gleich nach ihrer Rückkehr angefangen zu erzählen und – von Weinkrämpfen unterbrochen – sich alles von der Seele geredet. Dann war sie erst mal aktiv, hat Interviews gegeben und Öffentlichkeitsarbeit für die anderen Inhaftierten gemacht. Auch wenn ich wenig von Traumaverarbeitung verstehe, glaube ich, dass sie damit auch einen Weg zur Verarbeitung gefunden hat.
Hannelore Kutschkau: Meine Tochter hat immer gesagt, dass sie zum Glück nicht alleine war bei der Verhaftung und danach. Ihrer Meinung nach sind diejenigen, die später einzeln verhaftet wurden, noch viel schlimmer dran, weil sie den Misshandlungen noch stärker ausgesetzt sind.
Ihrer Tochter sind allerdings mit einem Schlagstock fast alle Zähne ausgeschlagen worden.
Hannelore Kutschkau: Die Schläge auf den Mund haben die Lippen zerfetzt, der Kiefer ist verformt, ein Stück Knochen ist abgesplittert. Zwei Zähne sind ausgeschlagen und sie wird wahrscheinlich noch einige verlieren. Von der Not-Zahnbehandlung in Genua ist sie fürchtlich traumatisiert, weil die Ärzte solche Visiere um den Kopf trugen wie die Polizei. Ohne mich oder ihren Freund geht sie hier nicht zum Zahnarzt, und sie hat ständig Schmerzen. Sie schläft auch nachts nicht alleine in der Wohnung.
Fühlen Sie sich denn in die Zeiten Ihrer eigenen Politisierung Ende der 60er-Jahre während der Studentenbewegung und im SDS zurückversetzt, wenn Sie jetzt an Solidaritätstreffen teilnehmen oder auf Demonstrationen sprechen?
Bodo Zeuner: Für mich gab es geradezu Déjà-vu-Erlebnisse. 1967 ist für mich eine erstaunliche Parallele. Die Erschießung von Benno Ohnesorg durch einen wildgewordenen Polizisten, am nächsten Tag die Rechtfertigung für die Schüsse als Notwehr und des Polizeieinsatzes insgesamt. Wir wurden damals auch durch die für uns unvorstellbare Brutalität der Ordnungskräfte politisiert.
Hannelore Kutschkau: Ich sehe das anders. Mein Vorgehen in den 60ern bestand darin, dass ich mich theoretisch in ein Thema vertieft habe. Man hat gelesen, Diskussionsvorlagen oder ein Thesenpapier verfasst und dann diskutiert. Die Demonstranten heute denken anders, und ihr Informationsaustausch ist ein anderer.
Worin genau äußert sich für Sie diese andere Herangehensweise an Politik?
Hannelore Kutschkau: Unsere Kinder verwenden viel mehr Fantasie und Ideen darauf, was man praktisch tun könnte, um etwas bildlich darzustellen. Auf die Idee sind wir gar nicht gekommen. Wir haben eben nur Slogans gedichtet.
Bodo Zeuner: Auch wenn es heute Theoriegruppen wie Attac gibt, hat die theoretische Auseinandersetzung doch nicht die gleiche Bedeutung wie damals.
Hannelore Kutschkau: Ich glaube, dass Worte allein nicht mehr ergiebig genug sind.
Bodo Zeuner: Heute ist sicherlich vieles globaler geworden, auch die Art, wie Proteste organisiert werden. Da ist es absurd, die Demonstranten als Globalisierungsgegner zu bezeichnen. Denn tatsächlich denkt diese Bewegung ja international, während die Politiker, die sich auf den Gipfeln treffen, vor allem an die Wahrung so genannter nationaler Interessen und deren Verteidigung gegen Ansprüche aus der Dritten Welt denken.
Werden Sie als Elterninitiative jetzt weiter machen?
Hannelore Kutschkau: Jetzt sind erst mal die Kinder mit den juristischen Verfahren dran.
Bodo Zeuner: Ich könnte mir vorstellen, dass wir uns bei Prozessen oder Untersuchungen noch mal als Eltern zu Wort melden. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie plant einen größeren Spendenaufruf Ende des Monats, um die Betroffenen zu unterstützen.
Heute fordern auf einer Demonstration der Bundesverband der Jusos, die Grüne Jugend Berlin, die Berliner Elterninitiative und andere Bündnisse die sofortige Freilassung der noch 15 inhaftierten Deutschen in Italien. Der Demonstrationszug führt um 18.30 Uhr vom Marheinekeplatz in Kreuzberg zur SPD-Parteizentrale. Bereits um 14 Uhr findet eine Kundgebung vorm Bundesinnenministerium statt.
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