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Wir gegen sie

Viele Debatten vermitteln den Eindruck, es ginge allein um gut und böse, richtig und falsch, die Entscheidung zwischen zwei Seiten. Doch das stimmt nicht

Wenn ich in den vergangenen Monaten Menschen fragte, wie es ihnen geht, ähnelten sich die Antworten erstaunlich oft: Also persönlich geht es mir ziemlich gut. Aber sonst ist doch alles scheiße. Schau dir mal die Welt an. Der Blick in den politischen Raum kann manchmal sehr verstörend sein. Man hat das Gefühl, als gäbe es nur Gut und Böse, als ginge es allen ständig und hauptsächlich darum, recht zu haben und jemandem die Schuld zuzuschieben – als müsse man sich bei allen Themen zwischen zwei Seiten entscheiden.

Wenn ich mir vorstelle, meine persönlichen Beziehungen so zu gestalten – wenn ich keine Fehler zugeben könnte, immer recht haben wollte, stets anderen die Schuld geben, nicht zuhören, alle in Gut und Böse einteilen würde – dann würden sich meine Liebsten wohl bald zu Recht von mir abwenden. Der Kulturkampf folgt im Prinzip immer demselben Ablauf und mündet in woke gegen normal oder rechts gegen woke. Die Seiten sind klar zugeteilt, es wird eindeutig benannt, wer auf der guten oder richtigen und wer auf der bösen oder falschen Seite steht – je nachdem, wen man fragt.

Die Polarisierung, die sich in solchen Vorgängen zeigt, nennt sich affektive Polarisierung – also eine emotionale Polarisierung. Der Begriff beschreibt nicht etwa die Differenz, die Menschen in ihren Haltungen, Meinungen oder Wertungen haben. Es geht allein um die emotionale Einstellung zueinander. Laut den Politikwissenschaftlern Adrian Blattner und Jan Voelkel von der Universität Stanford beschreibt affektive Polarisierung, wie sehr Menschen Gefühle der Abneigung und des Misstrauens gegenüber Gruppen entwickeln, die politisch anders denken als sie. Betrachtet wird also nicht, wie uneins eine Gesellschaft in einer politischen Frage ist, sondern wie sehr die Menschen andere Parteien, ihre Wählerinnen und ihre gewählten Vertreter ablehnen oder gar hassen.

Diese Art der Polarisierung geht demnach nicht automatisch einher mit einer Art Spaltung anhand von Werten. Um das zu veranschaulichen: Der Wert Familie könnte von zwei Menschen aus beiden Lagern geteilt werden. Vielleicht wollen beide viel Zeit mit der Familie verbringen, gute Väter sein, mit ihren Kindern spielen und zweisame Abende mit ihrer Frau verbringen. Vielleicht sind beiden Freundschaften wichtig, sie sind hingebungsvolle Trauzeugen für ihre besten Freunde, sie treffen sich sonntags mit den Kindern auf dem Spielplatz und laden einander zum Abendessen ein. Nur ist der eine rechts und konservativ, der andere links und progressiv.

Die Polarisierung spiegelt also nicht den tatsächlichen Unterschied in den Werten zweier Menschen wider. Die affektive Polarisierung ist dann hoch, wenn die beiden einander verachten. Im Prinzip reichen ein paar Vorstellungen über diesen Menschen, um ihn als Menschen abzulehnen.

Besonders wichtig: Nur die wenigsten Menschen sind stark affektiv polarisiert, gleich um welches politische und gesellschaftliche Thema es geht. Nur sind es genau die am stärksten affektiv polarisierten Personen oder Institutionen, die praktisch alle Debatten prägen.

In einem Interview mit Zeit.de spricht der Soziologe Steffen Mau über diese künstlich errichteten Mauern: Es ist nicht so, dass in der Gesellschaft ganz natürlich Polarisierungen vorhanden sind, die nur noch politisch bewirtschaftet werden. Sie werden durch politische und mediale Akteure behauptet und jeder muss sich irgendwie dazu verhalten. Die Lager, die eben noch fiktiv waren, entstehen dann in unseren Köpfen tatsächlich. Das bedeutet: Es existiert keine natürliche Spaltung, von der aus politisch agiert wird. Sondern: Politik und Medien erzeugen diese Spaltung. Die wichtigste Erzählung dabei ist die „Wir gegen sie“-Erzählung.

Foto: Hannes Leitlein
Gilda Sahebi

Journalistin, Autorin und Ärztin. Sahebi gilt als eine der profiliertesten Stimmen Deutschlands, wenn es um die Einordnung der politischen Lage, vor allem im Iran, und um Feminismus geht. Für ihre aufklärende Bericht­erstattung wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem als „Journalistin des Jahres 2022“. Ihr Text ist ein Auszug aus ihrem Buch „Verbinden statt Spalten – Eine Antwort auf die Politik der Polarisierung“, S. Fischer Verlag, 2025.

Gilda Sahebi

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