Atemtherapeut über Stress und Angst: „Wir bringen den Atem wieder in Fluss“
Unsere Gesellschaft ist chronisch überfordert. Der Atemtherapeut Christian Großheim über Stress, Körperbewusstsein und die Rückkehr zu einem natürlichen Atem.

„Zuletzt blies Gott dem Menschen den Odem des Lebens in seine Nase, der daraufhin ein lebendiges Wesen wurde“, heißt es in der Genesis. Seitdem muss der Mensch etwa 20.000 Mal täglich atmen, um am Leben zu bleiben.
taz: Herr Großheim, mit welchen Problemen kommen die Leute in Ihre Praxis?
ist Atemtherapeut. In Deutschland entwickelte sich um 1900 eine Bewegung junger Frauen, die erst Gymnastiklehrerinnen wurden und dann Atemtherapeutinnen.
Elsa Gindler betrieb in Berlin eine „Schule für harmonische Gymnastik“. Die Gymnastiklehrerin Ilse Middendorf eröffnete 1965 ein „Institut für Atemtherapie und Atemunterricht“.
Zu den Schülerinnen der beiden zählte Erika Kemmann, die dann ein eigenes „Institut für Atemlehre“ gründete. Diese Entwicklung setzte sich fort.
So lernten Christian Großheim und Cordula Albes erst bei Ilse Middendorf, wurden dann Mitarbeiter von Erika Kemmann und gründeten schließlich ihre eigene Atempraxis.
Christian Großheim: Das Spektrum der Klienten ist sehr groß. Das fängt an bei Menschen, die körperliche Probleme oder mit Atemwegserkrankungen zu tun haben. Aber die meisten leiden eigentlich unter Stresssymptomen. Sie haben eine hohe Infektanfälligkeit, können nachts nicht schlafen, leiden unter Arbeitsdruck. Das ganze Spektrum von psychischen Einschränkungen ist dabei, etwa Angst und Depression.
taz: Wie sind Sie in diese Thematik hineingeraten?
Großheim: 1975 war ich in Westberlin und damals haben viele engagierte Linke die Rebellionsidee aufgegeben und sich gesagt, wir müssen jetzt nach innen gehen, also zur Selbsterkenntnis gelangen. Und vorher gab es schon eine Auseinandersetzung mit Wilhelm Reich, der ebenfalls vom politischen Engagement zu einer körperorientierten Therapie gelangte. Dabei hat er sich unter anderen von Elsa Gindler unterrichten lassen.
taz: In den Zwanzigerjahren entwickelten sich viele neue politische und therapeutische Ansätze …
Großheim: Es gab damals schon eine Befreiungsbewegung von Frauen, die ihren Körper neu entdecken wollten, auf eine andere Weise als die Medizin das vorgegeben hatte. Frauen aus den Bereichen Gymnastik, Theater, Tanz, Musik und Kunst, die dann diese Körperarbeiten entwickelt haben, rein erfahrungsorientiert. Da war erst mal keine Theorie dahinter oder das, was man Wissenschaft nennt. Diese Frauen haben einfach gesagt, wir wollen uns anders erleben als die Gesellschaft und die männlich dominierte Medizin uns abverlangen. Der Faschismus hat diese ganze Bewegung unterbrochen. Nach 1945 wurde dann wieder an die Zwanzigerjahre angeknüpft. Etliche Protagonisten kamen aus dem Exil zurück. Und im Zuge der Studentenbewegung, der Protest- und Hippiebewegung wurden diese ganzen Ansätze auch hier übernommen.
taz: Worum geht es in der Therapie?
Großheim: Es geht darum, eine gute eutonische Haltung einzunehmen. Eutonisch meint, dass die Muskulatur in einer guten Spannung ist. Schultern sind weder eingerollt noch zu sehr nach hinten gedrückt. Der Kopf ist aufgerichtet und ich kann über die Beingelenke immer eine kleine Bewegung zulassen. Das wäre eine gute, präsente Haltung, wo auch die Atembewegung fließen kann. Und alles, was davon abweicht, das wäre zu korrigieren. Also wir achten auf die Körperhaltung: wie jemand in die Praxis kommt, wie jemand sitzt und sich bewegt. Daran können wir schon einiges ablesen. Es geht dabei nicht um eine fixe Zuordnung – „Der ist depressiv“ oder „Der hat Angst“. Wir beobachten intensiver und reden miteinander.
taz: Es gibt eine sehr seltene Krankheit, bei der die Leute nicht mehr automatisch atmen können. Was macht man mit denen?
Großheim: Die sind zum Tode verurteilt, wenn sie keine Hilfe finden. Man kann auch mit einer völlig reduzierten Atmung überleben, aber die Lebensqualität ist sicherlich sehr gering. Der Atem unterscheidet sich von allen anderen vegetativen Funktionen, also Verdauung, Herzschlag, Schlaf-Wach-Rhythmen, Hunger, dadurch, dass man ihn mit dem Willen direkt beeinflussen kann. Du kannst sagen, ich versuche mal, mit dem Bauch zu atmen. Es gibt viele Atemtechniken, bei denen man versucht, mit bestimmten Zählweisen zum Beispiel den Atem zu beeinflussen. Während du einatmest, zählst du bis vier. Dann hältst du den Atem an und zählst währenddessen bis sieben. Und wenn du bis sieben gezählt hast, atmest du aus und zählst dabei bis acht. Das ist die berühmte 4-7-8-Methode. Das wirkt beruhigend oder ist für Leute, die schlecht einschlafen können.
taz: Das wäre also eine willentliche Atembeeinflussung.
Großheim: Genau. Aber in unserer „Atempraxis“ machen wir keine Atemtechnik, sondern wir versuchen, über bestimmte Übungen in der Gruppe oder durch eine bestimmte Behandlung auf der Liege, den natürlichen Atem wieder ins Bewusstsein zu bringen und ihn auch zu verändern. Aber dies nicht mit dem Willen, sondern durch eine innere Haltung der Aufmerksamkeit, durch eine bestimmte Weitung des Körpers, Dehnung, Bewegung, Arbeit mit der Stimme … Die Atembewegung, bei der sich das Zwerchfell in den Bauchraum zieht und die Zwischenrippenmuskeln sich weiten und den Brustkorb weit machen, ist bei den meisten Menschen gestört. Weil alles, was einen Menschen betrifft – seine psychische Situation, seine soziale Situation, seine Arbeit, seine Gesundheit und so weiter, wirkt sich auf diese Atembewegung aus. Wenn jemand chronisch verspannt und verkrampft ist, kann der Atem nicht fließen. Dann ist er kurz und geschieht vielleicht nur im oberen Brustkorb. Er läuft auf Sparflamme. Und wir versuchen, diese Atembewegung wieder ins Fließen zu bekommen.
taz: Habben Sie den Eindruck, dass es mehr Patienten werden, weil die gesellschaftlichen Zustände und die Aufklärung die Leute bewusster machen, was ihr Wohlbefinden betrifft?
Großheim: Ja, die Achtsamkeit wird geradezu propagiert. Das Wort taucht inzwischen sogar in der Werbung auf. Aber es gibt immer so Wellen: Mal kommen viele Leute zu uns, mal nur wenige. Das ist bei allen Atemtherapeuten so.
taz: Gleichzeitig steigen die Stresssymptome und Ängste und seit Corona auch die Depressionen.
Großheim: Dazu gibt es mittlerweile Zahlen, unter anderem die jungen Leute betreffend. Andererseits gibt es bei den jungen Frauen heute ein Vorwärtsstreben. Aber je mehr verantwortliche Positionen und bessere Jobs sie einnehmen, desto mehr Stress haben auch sie. Und sie sind außerdem mehrfach belastet und nehmen sich immer mehr vor.
taz: Also gibt es einen erhöhten Bedarf an Therapie?
Großheim: Die Atemarbeit war lange Zeit eine Art Selbsterfahrung. Die Gesellschaft hat sich jedoch radikal verändert. Wir leben jetzt in einem neoliberalen Kosmos, in dem die Arbeitsverhältnisse ganz anders geworden sind, schwieriger, und der Leistungsdruck gestiegen ist. Hinzu kommen die Krisen und Kriegsängste. Das unterscheidet die Leute, die heute zu uns kommen, von denen, die in den Sechziger- und Siebziger- bis in die späten Achtzigerjahre kamen. Diese waren nicht unbedingt krank, sie haben das aus Gründen der Selbsterfahrung gemacht und kamen nicht aus Not in die Praxen. Heute kommen sie mit Symptomen – psychischen oder psychosomatischen.
taz: Ist der Atem das Leben, wie es die Bibel nahelegt?
Großheim: Der Atem ist sicherlich nicht das Leben, aber er ist ein lebenstragendes Prinzip, denn es ist klar, ohne Atem kein Leben. Bei den Griechen waren noch der Atem und die Seele eine Einheit. Wenn wir jetzt mal die Angst nehmen, die Lebensangst, und wenn du dann lernst, bei uns in der Praxis, dass der Atem wieder freier wird und die Enge sich transformiert ins Weite. Dann ist sicherlich schon etwas gegen die Angst getan. Und das ist dann auch eine seelische Qualität.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eklat wegen Palästina-Shirt im Bundestag
Schockiert doch mal!
Trotz widersprüchlicher Aussagen
Vermieter mit Eigenbedarfsklage erfolgreich
Bundeswehr an Schulen
Der Druck auf die Jugend wächst
Inhaftierte Antifaschist*in in Ungarn
Maja T. tritt in den Hungerstreik
Kulturstaatsminister Wolfram Weimer
Im tiefen Tal der Hufeisentheorie
Greta Thunbergs Soli-Aktion mit Gaza
Schräger Segeltörn