Wintergarten-Varieté schließt: Alle Verrenkungen waren vergebens
Am Samstag fällt im Wintergarten Varieté der letzte Vorhang. Das Traditionshaus ist pleite. Zu lange haben die Macher auf den Nostalgie-Effekt gesetzt; die Konkurrenz ist groß.
Noch balancieren Jose und Angel Casierra auf dem Seil, zwängt Hugo Zamoratte seinen biegsamen Körper in eine lebensgroße Flasche. Doch am Samstagabend ist Schluss: Dann fällt nicht nur der letzte Vorhang für die Revue "Orientalis", das Wintergarten Varieté in Schöneberg schließt seine Pforten - vorerst endgültig.
Wenn die 2.000 Glühlampen an der Fassade und der Sternenhimmel im Saal nach 17 Jahren erlöschen, werden rund 2,5 Millionen Menschen den Unterhaltungspalast besucht haben. Zuletzt blieben allerdings zu viele der 500 Sitzplätze leer, um den Betrieb wirtschaftlich führen zu können. Bereits im vergangenen Juni hatte Geschäftsführer Frank Reinhardt Insolvenz anmelden müssen. Das Vertrauen, dass sich die Produktionen und damit die Zeiten im Wintergarten in naher Zukunft bessern würden, hatten die Gläubiger offensichtlich nicht. Das Aus für die Traditionsbühne in der Potsdamer Straße und seine 68 Mitarbeiter war somit beschlossene Sache. "Wir haben alles versucht, aber es ist die traurige Wahrheit, dass es aus verschiedenen Gründen nicht gereicht hat", sagte Reinhardt Anfang Januar.
Mit der Unterhaltung als Ware waren an der Adresse Potsdamer Straße 96 schon andere gescheitert. 1912 war hier ein Lichtspielhaus eröffnet worden - zwischen den Filmen gab es wie damals üblich Varieté-Einlagen. In den 70er-Jahren verwandelte sich das lange Zeit als Tanzpalast genutzte Gebäude zum "Quartier Latin", einer der wichtigsten Konzertlocations Westberlins.
Anfang der 90er-Jahre schließlich bauten es federführend der "3 Tornados"-Kabarettist und "Circus Roncalli"-Mitbegründer Holger Klotzbach zusammen mit Lutz Deisinger zum Varieté-Theater um. Die notwendigen finanziellen Mittel kamen vom Management der Kölner Rockgruppe BAP und aus Lottomitteln. Das "Quartier" hatte mit seinem ambitionierten Programm seinerzeit bewiesen, dass man die Unterhaltungskultur der 1920er-Jahre mit ironischer Brechung und verbunden mit neuen Elementen für die Gegenwart tatsächlich neu beleben konnte. Fatalerweise waren es nicht finanzielle Probleme, sondern interne Differenzen der Gesellschafter über das Veranstaltungskonzept, die den Traum von der Varietébühne nach nur wenigen Monaten beendeten.
Eher glücklos diente sie nun als Party- und Konzert-Location, bis sie dem Berliner Konzertveranstalter Peter Schwenkow in die Hände fiel. Er setzte auf Busreisende, professionelles Marketing und Schampus auf der Getränkekarte sowie auf die klingenden Namen seiner Mitbetreiber Bernhard Paul vom Circus Roncalli und Universalkünstler André Heller. Dessen Satz "Wenn du nicht mehr an Wunder glaubst, dann komm hierher!" ziert seitdem den Eingang des Wintergartens. Klotzbach und Deisinger setzten ihre Neuerfindung der Unterhaltungskultur derweil in kleinerem Rahmen, aber umso erfolgreicher in der von ihnen gegründeten Bar jeder Vernunft und später auch im Tipi am Kanzleramt fort.
Die 90er-Jahre brachten eine neue Blütezeit der Varieté-Unterhaltung im Geiste der vielbeschworenen Roaring Twenties. In der Schönberger "Scheinbar" erprobten sich - damals wie heute - vor kleinem Publikum Jongleure und Akrobaten, später verstärkt Conférencier, Chansonnetten und sonstige Nachwuchs-Kleinkünstler. Eine neue goldene Ära der Varietékunst schien angebrochen. Auch andernorts eröffneten Varietébühnen im großen Stil wie der Tigerpalast in Frankfurt und das Düsseldorfer Apollo-Theater. Peter Schwenkow hob in Stuttgart mit der neu gegründeten Deutschen Entertainment AG in Stuttgart das Friedrichsbau-Varieté aus der Taufe.
Doch in den letzten Jahren liefen die Geschäfte immer schlechter; in Berlin erging es dem Chamäleon-Varieté und dem Wintergarten ähnlich. Zu lange hatte man allein auf die Zugkraft der nostalgischen Gefühle gesetzt. Und die Massen suchten Unterhaltung und Ablenkung längst andernorts. Während in Berlin durch die Schließung zahlreicher Off-Theater wie auch großer Häuser (Freie Volksbühne, Schiller-Theater) die Vielfalt Sprechtheater sich reduzierte, wuchsen die Möglichkeiten, einen netten, unterhaltsamen Abend zu verbringen: in Musicals im Theater am Potsdamer Platz, bei Musikshows im Neuköllner Estrel Festival Center oder Gastro-Revue-Events wie Hans-Peter Wodarz "Palazzo" sowie in den neuen Hochburgen der leichten Muse wie Admiralspalast und Tipi.
Wer als Tourist nach Berlin kommt - und gerade sie sind es letztlich, von denen die Unterhaltungskultur lebt -, kann sich über einen Mangel an Auswahl wahrlich nicht beklagen. Eine steigende Zahl von Veranstaltern buhlt um das gleiche Publikum. Und das entscheidet heute weitaus individueller. "Das Zuschauerverhalten ändert sich rasant", stellt Lutz Deisinger, künstlerische Leiter der Bar jeder Vernunft und des Tipi fest. In seinen Häusern setzte man immer schon maßgeblich auf Berliner Publikum. Doch auch das ist weniger neugierig auf Unbekanntes und greift zu Altbewährtem.
Noch größere Probleme haben jene Veranstalter, die auf Direktmarketing setzen. Die Zeiten, in denen Monate im Voraus die Zuschauer busladungsweise bereits fest gebucht hatten, sind längst vorbei. Das musste nicht nur das Wintergarten Varieté, sondern auch der Friedrichstadtpalast erkennen. In beiden Häusern hatte man zudem versäumt, die Produktionen weiterzuentwickeln und sich neue Publikumsschichten zu erarbeiten. Halbherzig hatten die Macher sich im Friedrichstadtpalast etwa an musicalhaften Zwitterwesen wie "Casanova" versucht und damit am Publikum vorbeiproduziert.
Die Zuschauer aber ziehen mehrheitlich Musicals in der marktgängigeren Form etwa im Theater des Westens und im Theater am Potsdamer Platz vor; neuerdings setzt auch der Admiralspalst auf dieses massentaugliche Genre: Im März wird Alan Parsons "Edgar Allen Poe" uraufgeführt, im Mai soll Mel Brooks "The Producers" zwei Monate lang für ein volles Haus sorgen.
Anders als der Wintergarten könnte der Friedrichstadtpalast die jüngste Krise aber erfolgreich überstehen. Seit 2005 hatte das Haus in der Friedrichstraße ein Millionendefizit angehäuft. Dem neuem Intendanten, Berndt Schmidt, war es allerdings bereits mit seiner ersten eigenverantworteten Produktion, "Qi", gelungen, eine Trendwende herbeizuführen, indem er das Showkonzept behutsam entstaubte. Einerseits wird nun alles an technischen Spielereien, Pomp und Glitter aufgefahren, was auf der weltgrößten Bühne so möglich ist und das Genre bietet. Gleichzeitig wird das Ganze mit Selbstironie vor allzu viel Ernsthaftigkeit bewahrt. Auch das Chamäleon-Varieté in den Hackeschen Höfen hat sich mit aufwendig inszenierten, modernen wie innovativen Eigenproduktionen das Überleben gesichert. Die feuchtfröhliche Badewannenshow "Soap" etwa füllte zehn Monate das Haus und ist nun auf Tour; auch mit der Nachfolgeproduktion "myLife" scheint man den Publikumsgeschmack zu treffen.
Und während man sich im Wintergarten Varieté vielleicht Gedanken macht, ob die letzten Shows vielleicht doch zu lieblos und beliebig gewesen sein könnten und so den Niedergang mitverschuldet haben, wird in Hamburg derzeit eine andere Varieté-Institution gerade wiederbelebt. Das schnuckelig verplüschte Hansa Theater im Hamburger Bahnhofsviertel hatte 2001 im 107. Jahr des Bestehens schließen müssen. Bis zum letzten Abend glitzerten die Kristalllüstern, servierten Damen mit weißen Häubchen und Schürzen an den Tischchen und hüpften dressierte Pudel durch Reifen. Das alles samt Hauskapelle gibt es auch in der Neuauflage der Theatermacher Ulrich Waller und Thomas Collien wieder - testweise erst einmal für acht Wochen. Neben den internationalen Artisten werden klingende Namen aus der Kabarett- und Comedyszene wie Mike Krüger, Matthias Deutschmann und Marlene Jaschke durchs Programm führen und für zusätzliche Attraktivität sorgen. "Natürlich erfinden wir das Rad nicht neu", sagt Thomas Collien, "wir mischen die Zutaten lediglich nur besser ab."
Ohne Comedy, so scheint es, geht in der Bühnenunterhaltung heute kaum mehr etwas. Die Nachwuchsentertainer in der Schöneberger Scheinbar versuchen sich immer seltener als Jongleure. Umso mehr hoffen sie in die Fußstapfen eines Mario Barth und Michael Mittermeier treten zu können. Und Thomas Hermans Quatsch Comedy Club in der ehemaligen Kleinen Revue des Friedrichstadtpalastes läuft so gut, dass der deutsche Comedy-Papst nunmehr auch eine Dependance in Hamburg führt.
Im Wintergarten bereitet man sich auf die Abschiedsvorstellung vor. Zugleich bemühen sich die Mitarbeiter um eine Rettung des Theaters wie ihrer Arbeitsplätze. Sie wollen die Bühne ab dem 15. Februar gern in Eigenregie mietfrei mit dem Notprogramm "Hurra, wir leben noch" weiter bespielen und mit den Abendeinnahmen die laufenden Betriebskosten finanzieren.
Die Mitarbeiter hoffen dabei auf Hilfe durch Künstler und die Politik, namentlich den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD). An ihn appellieren sie mit dem Werbeslogan "be Berlin - be Vielfalt - be Varieté!" Unterstützt werden die Mitarbeiter nach eigenen Angaben auch von Künstlern wie Georg Preuße (Mary), dem Comedian Eckart von Hirschhausen sowie den Regisseuren Christoph Hagel und Winfried Bauernfeind, dem langjährigen Regisseur an der Deutschen Oper Berlin.
Gleichzeitig wird ein Finanzierungskonzept für das Haus entwickelt. Ob sich der Vermieter, die Kuthe GmbH, allerdings auf den Deal einlässt, ist fraglich. Vielleicht aber passiert ja auch eines dieser Wunder, wie sie André Heller beschworen hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!