Will Ferell im ESC-Film auf Netflix: Grell und irgendwie amüsant
In diesem Jahr fiel der ESC coronabedingt aus. Netflix bietet mit „Eurovision Song Contest – The Story of Fire Saga“ ein filmisches Trostpflaster.
Pläne hatte die European Broadcasting Union, Koordinierungsstelle aller öffentlich-rechtlichen TV- und Radiosender Europa und angrenzender Länder, ja schon länger: einen Film, einen echten Spielfilm über den Eurovision Song Contest zur Welt zu bringen – dem Produkt selbst, eben dem ESC, könne dies nur nützen.
Will Ferrell, Filmschauspieler aus den USA, verheiratet mit einer Schwedin und mit ihr immerhin am Rande kundig über dieses, aus seiner Sicht seltsame Popfestival in Europa, das nicht von reinem Kunstgenuss und Popdistinktionen lebt, sondern von Punkten und Tabellariken, machte ihn schließlich: „Eurovision Song Contest – The Story of Fire Saga“.
„Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga“. Regie: David Dobkin. Mit Will Ferrell, Rachel McAdams u. a. USA 2020, 123 Min. Läuft auf Netflix
Finanziell unterfüttert durch Island und seine Marketingstellen, denn dort, inmitten der Schroffheiten des Nordatlantiks, beginnt die Geschichte, die dieser Film erzählt.
Kurz: Ein Kind versucht das Verlassenwerden durch seine Mutter zu kompensieren, trauert – und wird, an einem Samstagabend in familiärer Runde in einem Küstenkaff namens Húsavík, durch den Sound von Abba und ihrem „Waterloo“, ESC-Sieg 1974 in Brighton, wie durch eine Erleuchtung wieder zum Leben erweckt.
Fürs Mackertum verloren
Von dieser Sekunde an ist, aus der Perspektive vor allem seines Vaters (Pierce Brosnan, super, wie er diesen herzlosen Stiesel spielt), der Junge für das Mackergetue, für die glanzlos sich fügenden Lebensläufe aller anderen wie verloren. Er will nur noch dies: an einem ESC teilnehmen, und koste es die Beschämung durch die anderen.
Am Ende, nach mehr als zwei teils gar nicht mehr enden wollenden Stunden, hat Lars Erickssong mit seiner Partnerin Sigrit Ericksdottir (keine Geschwister!, gespielt von der zum Glück nicht überhübschen Rachel McAdams) nicht gewonnen – aber alle Herzen erobert, vor allem die seines Landes und auch das seines Vaters.
Zwischendurch, wohl auch um dem Film die nötige Street Credibility zu geben, treten verschiedene echte ESC-Sternchen und -Stars auf, Conchita Wurst, Jamala, Loreen, Salvador Sobral, Alexander Rybak und Netta Barzilai, Sänger:innen aus Moldau, Estland, Schweden – die in einem Song-A-Long Lieder von Cher, Madonna und Céline Dion singen: the whole camp package, akkurat die campen Supertracks der queeren Menschen der Nachkriegsmoderne, Ikonen auch wider die Mann-trifft-Frau- oder Frau-trifft-Mann-Logik im gewöhnlichen Popbusiness.
Und hier exakt liegt das Problem dieses liebevoll gesinnten Films durch Will Ferrell: Er sieht nur Plateauschuhe, wirklich grelle Kostüme, entsetzlich fade, überheizte Performances – und siedelt die Kerngeschichte doch, ideologisch durchaus reaktionär, so an, dass am Ende nicht nur alle blamiert, halbbegabt und irgendwie delirierend wirken, vor allem die Konkurrent:innen bei diesem ausgedachten ESC. Es bleibt auch ein heterosexuelles Liebesglück der kleinen Welt back to Iceland übrig: Schuster:innen, bleibt bei euren Leisten!
Melancholische Filme zum Genre
Man wüsste gern, wie Pedro Almodóvar die Geschichte angelegt hätte – er hatte sich an einer ESC-Geschichte probiert, sie aber verworfen. Ein Film von ihm könnte dem ESC neue Seiten abgewinnen. Und man weiß, dass in Israel Filme mit dem ESC als Thema produziert wurden; zuletzt gab es eine melancholische Geschichte zum Genre, sogar mit Isabelle Huppert, eine belgisch-luxemburgische Produktion, „Ein Chanson für Dich“, charmant in jeder Hinsicht, nicht allein wegen Huppert, und keineswegs kreischend-farbig, belgisch-grobkörnig eher.
„The Fire Saga“ indes, in keinem Kino zu sehen, dafür, der bessere Vertriebsweg, via Netflix seit gut einer Woche zu sehen, verrät auf gewisse Weise die Geschichte des ESC selbst: Es ist ein camp lesbares Festival, einmal im Jahr im europäischen Irgendwo; es lebt von der verächtlich machenden Haltung der meisten Kulturmenschen, die Kultur nicht wie Wettbewerb buchstabiert sehen wollen.
Es ist freilich die erfolgreichste TV-Unterhaltungsshow im europäischen Maßstab – und hat nie als Produkt auf Nischendasein gesetzt. Er musste populär gehalten bleiben, also auf Effekte setzen, auf pikante Töne und Moves, Bewegungen der Körper, weil alles in drei Minuten als Message rübergebracht sein muss: Spitze oder Verlierer – so geht die kalte Logik.
Dieser isländisch-schottisch-englisch-israelische Film aber macht aus dem ja wirklich gelegentlich Amüsanten eine Vater-Sohn-Tränenflüsse-der-Versöhnung-Geschichte. Und eine heterosexuelle Odyssee, die es in der eurovisionären Wirklichkeit gestern nicht gab und heute, in queer selbstbewussten Zeiten, nicht gibt: Ein Held:innenepos, das auf klassische Heterofamilieproduktion setzt, kann kein eurovisionäres sein. Wenn schon, aus kommerziellen Gründen, eine ESC-Geschichten nicht von schwulen ESC-Aficionados lebt.
Homophobe Gesetzeslage in Rußland
Ja, manche Szene ist kurios, auch der russische ESC-Mann ist grotesk wahrhaftig gezeichnet, ultraschwul, aber ungeoutet wegen der homophoben Gesetzeslage in seinem Land, also „nonbinary“, ein sehr schöner, ätzender Scherz wider das Ausredengeplapper, bloß nicht als schwul zu gelten. Und, klar: Ferrell ist ein guter Schauspieler, die anderen so überwiegend überemotional wie er agierend.
Empfohlener externer Inhalt
Aber ist das ergreifend? Hat es das Momentum des echten Übersichhinauswachsens, wie das bei ESC-Sieger:innen immer der Fall ist? Man muss weiter auf Pedro Almodóvar einreden, dass er sich diesem Thema widmet. Man fühlt jetzt schon die Tränen, die mit ihm zu weinen wären. Verschenkte Chance, diese „Fire Saga“.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links