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Wiener Student in Haft in ÄgyptenFreiheit für Ahmed!

Ahmed Samir Santawy ist eigentlich Student in Österreich – doch seit einem Jahr sitzt er in Ägypten in Haft. Seine Kom­mi­li­to­n:in­nen geben nicht auf.

Protest am vergangenen Dienstag in Wien Foto: Zsófia Bacsadi

Wien taz | Senf und Oliven stehen noch im Kühlschrank, als Lilly gemeinsam mit einer Kommilitonin Ahmeds Zimmer ausräumt. Die Verwaltung des Wiener Studierendenwohnheims Base 11 hatte ihnen mitgeteilt, sie könnten das Zimmer nicht länger wie ein abgesperrtes Museum ungenutzt lassen. Die zwei Frauen verpacken Ahmeds Kleidung, Bücher, Fotos und Porträts, die seine Verlobte Souheila von ihm gezeichnet hatte. Alles packen sie schnell ein, es ist zu beklemmend, zu intim. Ein Gefühl von Endgültigkeit. Aber irgendjemand musste es räumen, sagt Lilly. Das war im vergangenen Juni. Und noch immer ist Ahmed nicht zurück in Wien. Ein Jahr ist es nun her, dass Ahmed in Ägypten im Gefängnis sitzt.

Es ist Dezember 2020, als Ahmed Samir Santawy nach Ägypten fliegt. Er will dem frostigen Wiener Lockdown entfliehen, vermisst die Sonne in seiner Heimat, die Straßen und Gerüche Kairos. Will seine Familie und Freun­d:in­nen wiedersehen und Interviews für seine Forschung zu Abtreibungsrechten in Ägypten führen – seit er miterlebt hat, wie eine Freundin von ihm auf illegalem Weg abtreiben musste, lässt das Thema ihn nicht mehr los. Er will dazu promovieren, studiert Soziologie und Anthropologie an der renommierten Central European University (CEU) in der österreichischen Hauptstadt.

Am Flughafen in seinem Heimatland angekommen, halten die Behörden ihn drei Stunden fest. Sie befragen ihn zu seiner Forschung und seinem Leben in Österreich. Schließlich lassen sie ihn gehen. Einige Wochen später brechen schwer bewaffnete Sicherheitskräfte ohne Durchsuchungsbefehl in das Haus seiner Familie in Kairo ein und konfiszieren Aufnahmen der Überwachungskameras im Haus.

Am ersten Februar schließlich wird er aufs Polizeirevier im Stadtteil El- Tagammoa el-Khamis bestellt. Ahmed erscheint zusammen mit seinem Vater, aber der muss draußen bleiben. Als sein Sohn nach Stunden nicht wiederkommt, kehrt er schließlich allein nach Hause zurück.

Wenige Tage nach Ahmeds spurlosem Verschwinden verliest die Staatsanwaltschaft für Staatssicherheit schließlich die unspezifisch formulierte Anklage: Gegen ihn werde wegen Kontakten zu Terrororganisationen und der Verbreitung von Fehlinformationen ermittelt. Gemeint sind damit wahrscheinlich zwei Facebook-Posts, in denen er die ägyptische Coronapolitik kritisierte.

Judith Butler fordert Freilassung

Lilly sitzt im Online-Seminar, als jemand in die Whatsapp-Gruppe des Soziologie-Jahrgangs schreibt: Ahmed ist verschwunden. Wie betäubt beendet sie das Seminar und läuft an die frische Luft, weiß nicht, wohin mit sich. „Noch am selben Abend haben wir angefangen, uns zu organisieren.“ Der Grund für seine Festnahme seien sein heikles Forschungsthema und seine kritische Perspektive, glauben sie. Aber vielleicht auch einfach Pech. Seine Ankunft im Ägypten fällt mit dem zehnten Jahrestag der Aufstände des Arabischen Frühlings zusammen. Auf ägyptische Studierende, die im Ausland forschen, soll seine Festnahme wie eine Warnung wirken, nicht regimekritisch zu agieren.

Ahmeds Kommiliton:innen, alle eng miteinander befreundet, wollen für ihn kämpfen. Aber was unternimmt man eigentlich, wenn einer plötzlich schuldlos im ägyptischen Gefängnis verschwindet?

Solidarität in Wien: Ahmeds Mitstudierende fordern dessen Freilassung, hier im Mai 2021 Foto: Adam Hushegyi

Sie beginnen, sich zu vernetzen, wollen Ahmeds Familie, seine Verlobte Souheila und die Anwälte unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt ist schon bekannt, dass Ahmed in der Untersuchungshaft gefoltert wurde. Nehmen Kontakt zu Amnesty International auf, setzen sich mit Jour­na­lis­t:in­nen in Verbindung, posten auf Social Media. Erstellen Petitionen, sogar die bekannte Philosophin Judith Butler unterschreibt. ­Schreiben E-Mails an Politiker:innen, weltweit. Nur wenige antworten.

Seit der gelenkten Wahl des früheren Militärchefs Abdel Fattah al-Sisi 2014 hat sich die Situation der Menschenrechte in Ägypten dramatisch verschlechtert. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass Zehntausende Andersdenkende in Gefängnissen sitzen, die Zahl der Todesurteile steigt – eine offizielle Statistik existiert allerdings nicht. In Österreich und Deutschland ist dieses Vorgehen bekannt. Doch Kritik am Führungsstil al-Sisis wird selten laut.

Ahmeds Jahrgang graduiert ohne ihn

Zur ersten Demo Ende Februar 2021, bei der seine Kom­mi­li­to­n:in­nen Ahmeds Freilassung fordern, kommt auch Ewa Ernst-Dziedzic, die Menschenrechtsbeauftragte der österreichischen Grünen. Drei Grünen-Politiker:innen stellen einen Antrag im Wiener Gemeinderat. Sie fordern den Bürgermeister auf, „im Namen der Republik Österreich alles in ihrer Macht stehende zu unternehmen, um eine sichere Rückkehr des Wiener Studenten nach Wien zu ermöglichen“. Zeitgleich zieht die Universität hinter den Kulissen auf diplomatischer Ebene an allen Strängen. Vergeblich.

Wiederholt versucht nach Angaben von Amnesty International auch der österreichische Botschafter in Ägypten, den Fall Ahmed auf die Agenda zu rücken. Am Tag der Urteilsverkündung erscheint er im Gericht, darf den Saal aber nicht betreten. Seinen 30. Geburtstag am 4. Juli verbringt Ahmed in seiner Einzelzelle.

Der Soziologiejahrgang graduiert ohne ihn, nimmt aber ein Video auf. Sie sagen ihm, wie sehr seine albernen Witze fehlen. Ahmed kriegt nichts davon mit. Alte Aufnahmen, die seine Kom­mili­to­n:in­nen regelmäßig posten, zeigen, wie er unbeschwert lacht und tanzt. „Irrsinnig lustig war es mit ihm, er hat immer um die Ecke gedacht“, sagt Lilly.

Ende Juni verurteilt die ägyptische Regierung Ahmed zu vier Jahren Haft. Kurz nach der Urteilsverlesung im Juni tritt Ahmed in den Hungerstreik. 40 Tage lang nimmt er nichts zu sich. Er kommt dem Hungertod nahe. Sein Bruder überzeugt ihn schließlich bei einem Besuch, den Streik zu beenden. Sprechen kann Ahmed zu diesem Zeitpunkt kaum noch, er erholt sich nur langsam. Immer wieder wird er zwischen Gefängnissen verlegt, bevor er schließlich aus der Einzelhaft darf. Souheila schickt ihm Briefe, schreibt ihm, wie sehr sie ihn vermisst und erzählt auf Facebook davon. Die analoge Post behalten die Gefängniswärter ein.

Einige der Briefe erreichen Ahmed aber, er bittet seine Verlobte um Nachricht an seine Kommiliton:innen: „Meine Freunde, erinnert mich an die schönen Zeiten, die wir zusammen verbracht haben. Mein lausiges Gedächtnis wird immer schlechter und dumpfer, und ich kann mich nur noch auf die dunklen Momente in Wien besinnen“, schreibt er.

Vor Lillys Augen spielt sich immer wieder ein Tag im Oktober 2020 ab, erzählt sie. Kurz vor dem Lockdown war das letzte Mal, dass sie aktiv Zeit mit Ahmed verbrachte. Sie gehen gemeinsam an die Donau, es sind die letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres. Hüpfen ins Wasser, obwohl es schon viel zu kalt zum Baden ist. Dann will Lilly nach Hause, Texte lesen. Ahmed ist enttäuscht, überredet sie, noch mal Schwimmen zu gehen. „Warum waren mir andere Sachen an diesem Tag wichtiger?“ fragt sie sich rückblickend.

Hoffnung auf Begnadigung

Dorit Geva, Professorin für Soziologie, unterrichtet Lilly und Ahmed an der CEU und betreut Ahmeds Masterarbeit. Im Winter reist sie nach Italien. Überall, von Mailand bis Sizilien, blickt ihr auf Graffitis das Gesicht eines jungen Mannes entgegen. „Libertà per Patrick Zaki!“, fordern sie. Ein Jahr vor Ahmed wurde Zaki, der an der Universität Bologna studierte, im Februar 2020 bei seiner Ankunft am Flughafen in Kairo verhaftet. Auf italienischen Druck hin entließ Ägypten ihn im Dezember vergangenen Jahres aus dem Gefängnis. Nun darf er italienischer Staatsbürger werden.

„Warum wird unserem Ahmed so ein Engagement in Österreich verwehrt?“, denkt Geva und beschließt, nicht länger auf ein Wunder zu warten, sondern sich selbst für Ahmed einzusetzen. Für sie ist Ahmed ein leidenschaftlicher Forscher. Lustig, aber auch stur, versessen auf seine Masterarbeit. „Bei jedem alten soziologischen Text eines weißen Mannes fragte er: Welche Relevanz hat das heute noch für mich als Ägypter? Für ihn ist die Dekolonisierung von Lehrplänen viel mehr als eine hypothetische Sache, sie ist essenziell.“ Mit Souheilas Hilfe versucht Geva in Zusammenarbeit mit der Universität, ihm Bücher ins Gefängnis zu senden, damit er seine Masterarbeit beenden kann.

Am Dienstag, dem ersten Jahrestag von Ahmeds Festnahme, prangt im Fenster des nüchtern grauen Glasgebäudes auf dem Campus der CEU eine lebensgroße Kartonfigur. „Freedom for Ahmed Samir“ steht in orangefarbenen Buchstaben auf Ahmeds Bauch geschrieben. Darüber sein warmes Lächeln und ein krausiger schwarzer Stoppelbart. Statt dem Menschen ­Ahmed selbst ist da nur noch ein weißer Karton mit seinem Gesicht. Gezeichnet hat sie der politische Künstler und Illustrator Gianluca Costantini. Am Vormittag wanderte die Figur mit seinen ehemaligen Kom­mi­li­to­n:in­nen zu einer Mahnwache vor die ägyptische Botschaft. Wie ungeladene Gäste kreuzen sie dort immer wieder auf, um seine Befreiung zu fordern.

Das Gerichtsurteil gegen Ahmed ist nicht anfechtbar. Aber die letzte Hoffnung bleibt eine Amnestie und Begnadigung des Präsidenten. Die Chancen dafür sind klein, aber groß genug, um weiterzukämpfen. Für Geva, Lilly, Souheila und all die anderen. Dafür stehen sie vor der ägyptischen Botschaft.

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