Wiederentdeckung einer Fotografin: Fester Blick, ohne Retusche
2015 tauchte der Nachlass der einst erfolgreichen Fotografin Gerty Simon auf. Nun sind ihre Werke in der Berliner Liebermann-Villa zu sehen.
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Manchmal lässt sich die Bekanntheit einer Person an banalen Dingen ablesen, dem Wikipedia-Eintrag zum Beispiel. Gerty Simon verfügt nämlich nicht mal über einen deutschsprachigen Eintrag, nur in der englischsprachigen Wikipedia wird die gebürtige Deutsche aufgeführt. Doch das kann sich ja noch ändern, immerhin ist in der Berliner Liebermann-Villa am Wannsee momentan die erste Ausstellung Simons in Deutschland seit ihrer Flucht vor den Nazis nach Großbritannien zu sehen.
Simon, geboren 1887 in Bremen, durchlief für eine jüdische Frau im Zwischenkriegsdeutschland eine außergewöhnliche Karriere. Auf Porträtfotografie spezialisiert, hatte Simon die Großen der Weimarer Republik vor der Kamera; darunter Albert Einstein, Max Liebermann und Käthe Kollwitz. Ihre Bilder wirken trotz oft förmlicher Posen privat: Man meint, das Vertrauen, das die Fotografierten in Simon hegten, auf ihren Gesichtern gespiegelt zu sehen.
So etwa bei dem französischen Bildhauer Charles Despiau: Dieser blickt in die Kamera weniger posierend als zuhörend, als sei sein Gesichtsausdruck mitten im Gespräch eingefangen. Großartig auch Lady Clark, Ehefrau des britischen Kunstkritikers Kenneth Clark, die auf ihrer Fotografie stark und feminin zugleich wirkt, mit einem nur locker um die Schultern geschwungenen Schal träumerisch zur Seite schaut, als gelten die gesellschaftlichen Konventionen der 1930er Jahre für alle anderen, nur nicht für sie.
Platz hätte es gegeben für mehr Fotos in der Ausstellung, doch man hat in der Liebermann-Villa unter Direktorin Lucy Wasensteiner mehr Wert auf die Bildkompositionen gelegt. So hängen gleich eingangs geisterhaft weiße Hände eingerahmt, vermutlich die des Pianisten Georg Grünberg, neben dem konzentriert lesenden Mathematiker Richard von Mises und einer Nahaufnahme von Lotte Lenya, die ihren herausfordernden Blick direkt auf die Kamera richtet.
Markante Nase im Profil
Simon lässt ihren Modellen viel Raum, sie selbst zu sein, das Bild selbst zu bestimmen. Die Bildhauerin Renée Sintenis verwandelt sich auf ihrem Foto dadurch beinahe zu einer Skulptur, so betont scharf wirkt die markante Nase im Profil, so alabasterfarben ihre glatte Haut. Simon – und das unterscheidet sie etwa von Lotte Jacobi, die, ebenfalls eine erfolgreiche jüdische Fotografin der 20er Jahre, in vierter Generation einer Fotografenfamilie entstammte – hat keine fotografische Ausbildung absolviert.
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb war sie karrierebewusst, eröffnete ein eigenes Fotostudio und baute schnell ein Netzwerk zu Politikern, Wissenschaftlern und Künstler:innen auf. Ihre erste Einzelausstellung gab sie im Jahr 1928 bei sich zu Hause und konzipierte ein Jahr später die Schau „Geistiges Berlin, geistiges Paris“, wo sie ihre Porträts aus Frankreich und Deutschland gegenüberstellte.
Simon erntete viel Lob in der Presse, und selbst der Vorwurf, sie weigere sich, jegliche Form von Retuschen vorzunehmen, klingt doch eher nach einer Anerkennung ihrer Fotokünste. Für die Überlieferung dieser Kritiken hat Simon selbst gesorgt. Vor ihrer Emigration nach London sammelte die Berlinerin alle Presseerwähnungen, übersetzte einige sogar ins Englische und sortierte sie mit Sorgfalt.
„Feindliche Ausländer“
So gelangten die fast hundert Jahre alten Artikel 2015 zusammen mit ihren Fotografien an die Wiener Holocaust Library, der ihr gerade verstorbener Sohn, Bernd Simon, seinen Nachlass vermachte. Dort wunderte man sich nicht wenig, dass sich zwischen den Dokumenten des erfolgreichen Geschäftsmannes der komplette fotografische Nachlass seiner heute in Vergessenheit geratenen Mutter befand.
2019 veranstaltete daher die Wiener Library die erste Ausstellung Simons, die 1970 in Großbritannien gestorben ist, nach über neunzig Jahren. Als Fotografin war Simon in ihrer neuen Heimat nur kurz aktiv. Ihre Spuren verlaufen sich nach 1936, wahrscheinlich zog sie sich wegen des aufziehenden Krieges aus der Öffentlichkeit zurück.
Ihr Mann und ihr Sohn wurden 1940 als „feindliche Ausländer“ inhaftiert, wie es damals vielen deutschen Exilanten widerfuhr. Doch die Familie bekam schließlich die britische Staatsbürgerschaft, und so lebte Gerty Simon wohl eher zurückgezogen in einem Londoner Vorort. Das ist schade: Simon, die auf einem Foto so hintergründig lächelt, die Haare lose zusammengebunden, eine Zigarette zwischen den Lippen, hätte vielleicht gerade in ungezwungeren Zeiten Impulse zur Portätfotografie beizutragen gehabt.
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