: Wieder mal Visionen kriegen
SPD leckt in Neumünster ihre Nachwahl-Wunden
Von Esther Geißlinger
„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, raunzte einst Herbert Wehner. Schon damals stand die stolze Sozialdemokratie gerade mal wieder nah am Abgrund, inzwischen ist sie einen Schritt weiter. Wege aus dem Jammertal der Wahlniederlagen suchen am kommenden Wochenende die Delegierten auf einem Parteitag der SPD Schleswig-Holstein. Und ja: Visionen sind wieder gefragt, konkret eine „Vision für Schleswig-Holstein im Jahr 2030“.
Schön ist die Lage nicht für die GenossInnen im echten Norden. Trotz Mitgliederzuwächsen zu Jahresbeginn durch den Schulz-Hype schrumpft die Zahl der Ortsverbände, das Durchschnittsalter der Mitglieder liegt bei 61 Jahren – was bedeutet, dass ein stattlicher Anteil derer, die heute das rote Parteibuch in der Tasche tragen, kein allzu persönliches Interesse am Jahr 2030 und folgende haben dürften.
Um Jüngeren den Einstieg zu erleichtern, sollen „Mitmachhürden“ niedriger gesetzt werden, heißt es im Leitantrag der Parteispitze. Klingt wie beim Spielnachmittag in der Kita.
Aufwärts gehen soll es auch mit guter Laune: Immer wieder fordert der Leitantrag, der „SPD ein positives Gesicht zu geben“. Aber ausgerechnet Parteichef Ralf Stegner gelang das jüngst nur mittelprächtig: Seine nach unten gezogenen Mundwinkel nach der Wahlniederlage bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein im Mai brachte den Moderator der NDR-Satiresendung „Extra drei“, Christian Ehring, zu dem Fazit: „Ralf Stegner macht es immer noch schlimmer.“
Diese Meinung scheinen auch einige GenossInnen in Schleswig-Holstein zu teilen. Mehrere Orts- und Kreisvorsitzende forderten jetzt einen Neuanfang, und auch Ex-Ministerpräsident Björn Engholm schlug jüngst in einem Interview vor, dass die altgedienten Sozialdemokraten „in den Hintergrund treten“ sollten und die SPD dann „verjüngt, neu und unkonventionell“ ins nächste Rennen gehen könne.
Denn das nächste Rennen steht schon wieder bevor: Im kommenden Frühjahr finden in Schleswig-Holstein Kommunalwahlen statt. Aber Wahlen oder eine Debatte über das Spitzenpersonal sind auf dem SPD-Parteitag in Neumünster eigentlich nicht vorgesehen. Nur durch die Hintertür. In einem Änderungsantrag geht es um neue Leute und die Frage, warum nicht immer ein Viertel aller Listenplätze und Ämter an Personen vergeben werden, die diese Funktion bisher nicht innehatten. Das schlägt die Arbeitsgemeinschaft der Selbstständigen in der SPD vor. Das klingt fast wie eine Vision.
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