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Wie woke soll es sein?

Ein Sommerspaziergang über das Tempelhofer Feld in Berlin – mit den aktuellen Debatten zur Identitätspolitik im Hinterkopf

Wie soll man einander begegnen? Menschen auf dem Tempelhofer Feld Foto: Emmanuele Contini/imago

Von Dirk Knipphals

Man denkt keineswegs immer an Identitätspolitik, wenn man auf dem Tempelhofer Feld in Berlin spazieren geht, an diesem besonderen Ort, an dem sich die Geister scheiden. Man denkt daran, sich vor den Drachen der Paraglider in Acht zu nehmen, die einen treffen könnten. Man überlegt sich, ob man nicht doch Rollschuhfahren lernen sollte, wie das hier so viele machen. Man sieht den Grillenden beim Grillen zu, den Chillenden beim Chillen und den Vögeln beim Trillern (es gibt wirklich viele Vögel auf dem Tempelhofer Feld).

Aber manchmal denkt man eben auch: Eigentlich ist das hier jetzt gelebte Identitätspolitik. Es geht darum, dass sehr unterschiedliche Menschen miteinander auskommen müssen. Manche kiffen sehr viel. Manche trinken noch nicht mal Alkohol. Manche brutzeln Fleisch satt. Andere liegen halbnackt herum. Es gibt Hipster, Migranten der ersten, zweiten, dritten Generation, Traditionsberliner. Und alle machen sie ihr Ding. Berlin halt, werden jetzt viele denken, Ausnahme in Deutschland, aber das stimmt eben nicht, wenn man hier spazieren geht. Hier fühlt es sich nach Normalität an. Leben und leben lassen.

Einen großen Unterschied zur Identitätspolitik gibt es: Auf dem Tempelhofer Feld existiert keine Dominanzkultur, die durchbrochen werden müsste. Rennradler versus Herumschlenderer. Brutflächen versus Liegewiesen. Hundebesitzer versus junge Eltern. Der Platz muss immer ein bisschen ausgehandelt werden, wobei Regeln helfen, an die sich die meisten auch halten.

Dafür kann man wiederum auf den Gedanken kommen, dass es in den jeweiligen Debatten Strukturähnlichkeiten gibt. Die Initiative 100% Tempelhofer Feld e. V. wirbt für den vollständigen Erhalt des Geländes als „Ort der Begegnung“. Doch viele sehen das anders. Als Olaf Scholz noch Bundeskanzler war, konnte er hier nichts anderes als leeren Raum erkennen, „der da gewissermaßen ungenutzt rumliegt“. Andere sehen nur die Möglichkeiten der Bebauung und, auch das, des Profitmachens.

Solche fundamental unterschiedlichen Perspektiven gibt es auch auf die Identitätspolitik. Bis hin dazu, sie als Gelegenheit zum Kulturkampf zu benutzen, der wiederum von einem Kampf um Aufmerksamkeit – und Buchverträge – schwer zu trennen ist. Es gibt jedenfalls da draußen in der Gesellschaft und vor ihren Rechnern mit den geöffneten Apps der sozialen Medien viele Menschen, die Identitätspolitik kritisieren, in Wahrheit aber die multikultureller gewordene Gesellschaft selbst attackieren wollen – zum Beispiel also solche konkreten Orte wie das Tempelhofer Feld. Klar, wer Einwanderung als Unglück empfindet, Interkulturalität als Stress und zu einer herkunftszentrierten deutschen Identität zurückkehren möchte, für den ist jedes Nachdenken darüber eine Zumutung.

Diese Kritik von rechts rekurriert allein auf die fragwürdigen Seiten der Wokeness und nutzt sie aus zur Legitimation ihrer eigenen Identitätspolitik, sei diese nun sentimentalisch-reaktionär zurückwollend zu einem angeblich heilen Zustand in der Vergangenheit, an dem man etwa noch unhinterfragt „Winnetou“ gucken durfte, oder auch direkt völkisch getrieben à la „Deutschland den Deutschen“ (und „Ausländer raus“). Darüber hinaus, dass der Hintergrund dieser Form der Kritik reaktionär ist, macht sie es sich also auch in der Beschreibung ihres Gegenstandes zu leicht.

Das alles ist relativ schnell zu durchschauen. Wer nun aber meint, Identitätspolitik allein dadurch verteidigen zu können, indem er diese reaktionäre Art, sie zu kritisieren, entlarvt, der macht es sich auch zu leicht. Denn es gibt ja die Fragwürdigkeiten, die von allen möglichen Seiten als Triggerpunkte ausgenutzt werden können: haarspalterische bis verstiegene Handlungsanweisungen, allzu professoral rüberkommende Sprachexerzitien, der essenzielle Kulturbegriff der Debatten um kulturelle Aneignung. Und es ist schon die Frage, ob das alles nur Übereifer ist oder im Kern der Identitäts­politik angelegt.

Keineswegs zu leicht macht es sich die Jungle World, was schon mal gut ist. In der Wochenzeitung läuft derzeit eine teilweise kontroverse Debatte über Wokeness. Die rechte Kritik an der Identitätspolitik wird dabei zurückgewiesen. Dass „rechte Kulturkämpfer“ ihre Positionen mit dem Argument aufwerten, „dass sie wenigstens nicht woke seien“, und dass Politiker wie Putin und Trump sich dieser Entwicklung bedienen, wird im Vorspann der Reihe ausdrücklich angemerkt. Vor diesem Hintergrund aber werden andere Möglichkeiten, Identitätspolitik zu kritisieren, in aller Schärfe durchgespielt.

Auf zwei Kritikpunkte lässt sich die Debatte im Wesentlichen bringen. Der erste: Wokeness schwächt die Linke, indem sie erstens: von anderen wichtigen Problemen ablenkt (so Dierk ­Saathoff in seinem Beitrag), zweitens: der Bourgeoisie einen Deckmantel bietet, Klassengegensätze zu verschleiern (so Holger Marcks), und drittens: indem sie Praktiken des Kulturkampfs und Cancelns eingeübt hat, derer sich in den USA die Rechte nur zu bedienen brauchte, um in einem vibe shift Trump erneut zum Präsidenten zu machen (so Ralph Leonard).

Daran, dass man über der Identitätspolitik andere emanzipative Konfliktfelder keinesfalls vergessen sollte, ist natürlich etwas dran – aber lässt sich das so klar trennen? Dass Wokeness auch Lifestyle ist oder zumindest eine Zeitlang war, stimmt – aber muss man sie deshalb insgesamt erledigen? Und die vibe shift-Analyse ist ihrerseits fragwürdig. Sie unterschlägt, dass es etwas vollkommen anderes ist, von einer machtlosen Position aus zu agieren als von einer mit aller repressiven staatlichen Macht ausgestatteten. Und sie unterschätzt die faschistoide Energie, mit der in den USA gerade vorgegangen wird – das als rechte Identitätspolitik mit links-emanzipativer letztlich gleichzusetzen, geht nicht auf.

Der zweite zentrale Kritikpunkt besteht darin, dass die Identitätspolitik mit ihren Denk- und Sprechverboten einen „autoritären Tribalismus“ betreiben würde und damit eine über die jeweiligen Opfergemeinschaften hinausweisende, aufgeklärt universalistische Perspektive verunmöglicht. Genau hier erhebt nun der vierte Beitrag der Reihe Einspruch: Lea Susemichel und Jens Kastner verteidigen nämlich an diesem Punkt die Identitätspolitik gegen manche ihrer eigenen Vertreter. Sie erinnern daran, dass der Kampf um Emanzipation und gesellschaftliche Partizipation durchaus eine über die jeweils kämpfenden Gruppen hin­ausweisende universalistische Seite hatte oder zumindest haben kann.

In dem weiterhin gut lesbaren Buch „Identitätspolitiken“ der beiden Au­to­r*in­nen (Unrast-Verlag, 2018) kann man etwa das Konzept des „strategischen Essenzialismus“ nachschlagen. Es besteht darin, dass man die identitären Gruppenzuschreibungen erst einmal annimmt, sie vom Negativen ins Positive wendet – also Gay Pride, Blackness, Queerness und Feminismus feiert –, sich dabei aber der gesellschaftlichen Konstruiertheit dieser Identitäten bewusst bleibt, um nicht selbst ausschließend zu werden.

Ergänzen lässt sich, dass aus dem Bereich der Philosophie derzeit interessante Ansätze kommen, den Universalismus nicht mehr als abstraktes Prinzip zu begründen, was von Vertretern der Identitätspolitik oft als Trick kritisiert worden ist, in dieses Prinzip in Wahrheit den weißen westlichen Mann einzuschreiben. Jule Govrin leitet ihren „Universalismus von unten“ (Suhrkamp-Verlag) aus der Verletzlichkeit menschlicher Körper ab. Hans Joas kommt in seiner großen historischen Rekonstruktion der Entstehung des Universalismus (auch Suhrkamp) auch auf die Sklavenaufstände im Haiti des 18. Jahrhunderts zu sprechen. Der strikte Gegensatz zwischen dem Westen und dem globalen Süden, auf dem manche Vertreter der Identitätspolitik aufsitzen, weicht so auf.

Von den Eindrücken des Tempel­hofer Feldes aus lässt sich noch auf etwas anderes hinweisen: nämlich dass die Identitätspolitik eingebunden ist in gesellschaftliche Praxis, und das auch bleiben sollte. Sie ist kein Intellektuellenprojekt, sondern sollte stets reflektieren, wie sie zu einem emanzipativen Miteinander beiträgt – als dessen fast utopischer Vorschein das Treiben auf dem Tempelhofer Feld nicht immer, aber doch manchmal aufscheint.

Wer aber Identitätspolitik allein dadurch verteidigt, dass er die reaktionäre Kritik an ihr entlarvt, macht es sich zu leicht

Manche Verstiegenheiten der Identitätspolitik der vergangenen Jahre lassen sich dabei mit einer Wendung verteidigen, die der Schriftsteller Rainald Goetz auf die #MeToo-Bewegung gemünzt hat, die sich aber auch hier anwenden lässt: „[…] es geht nur so, eine leisere Sprache versteht die Macht nicht“ und weiter: „[…] öffentlich, streitig, wahnhaft rechthaberisch wird dabei verhandelt, […] wie die Menschen in jeder konkreten Interaktion einander begegnen wollen“. Genau darum ging es in den vergangenen Jahren.

Inzwischen aber sollte klar geworden sein, dass die Macht verstanden hat und sich massiv wehrt. In dieser Situation sollte man vielleicht das wahnhaft Rechthaberische nicht überbetonen und auf Bündnisfähigkeit innerhalb des emanzipativen Lagers setzen. Die Möglichkeiten für Bündnisse, denkt man jedenfalls mit einem letzten Blick übers Feld, sind dabei vorhanden. Es ist verständlich, wenn Vertreter der Identitätspolitik angesichts von Trump und AfD von einem Backlash sprechen. Aber vielleicht handelt es sich auch um einen spiralförmigen Fortschritt. Vielleicht ist die Lage jetzt so, wie sie einst, lange her, nach 1968 gewesen ist: Die Revolution bleibt aus, aber viele emanzipative Forderungen sinken allmählich in die Gesellschaft ein.

Hinter dem gegenwärtigen Genervtsein von Identitätspolitik lässt sich doch auch beobachten: Die möglichen Sprecherpositionen haben sich vervielfältigt, der Zugriff des Normalen auf die Lebensentwürfe hat sich verringert. Kurz, die Gesellschaft ist in den vergangenen Jahren woker, im guten Sinn, geworden.

Aber kann auch sein, dass das Tempelhofer Feld demnächst bebaut wird und die gesellschaftlichen Errungenschaften wieder abgewürgt werden. Es gibt viel zu verteidigen.

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