piwik no script img

Wie tickt die Berliner SPD-Basis?Auf der Suche nach sich selbst

Die Europawahl verschärfte die Krise der Sozialdemokraten. Eine Geschichte von der Basis in Spandau und aus dem Kurt-Schumacher-Haus.

SPD-Versammlung im Kladower Hof: Ulrike Sommer (vorn, Mitte) und Lars Rauchfuß (rechts daneben) Foto: Stefanie Loos

Ein mittelalter Sozialdemokrat mit hellrosa Hemd und zurückgegelten Haaren sitzt mit knapp anderthalb Dutzend Genossen im Kladower Hof und wütet – über die So­zialdemokratie.

Es gab Taten der SPD, die heute als historische Fehler gelten, vor allem dann, wenn es darum geht, den gegenwärtigen Zustand der Partei zu analysieren. Auf ­Bundesebene kommt dann in der Regel die Hartz-IV-Reform zur Sprache. In Berlin ist es die Privatisierung von Wohnungen in den 2000er-Jahren unter einem damals regierenden rot-roten Senat. Mit Verweis auf die Haushaltslage verkaufte dieser 2004 die städtische Wohnungsbaugesellschaft GSW – deren Wohnungen gehören heute der Deutsche Wohnen. Das Verscherbeln der GSW bildet aber nur die Spitze des Eisbergs: Von den im Jahr 2000 knapp 400.000 in öffentlichem Besitz befindlichen Wohnungen waren sieben Jahre später noch 260.000 übrig.

In der Parteispitze der Berliner SPD muss man mit dieser Geschichte leben. Und man gibt sich Mühe, sie irgendwie hinter sich zu lassen. Aber was denkt die Basis? Und weshalb wird das Wählerpotenzial der Partei immer kleiner? Denn genau darauf deuten gegenwärtige Umfrageergebnisse von 15 oder 16 Prozent (je nach Meinungsforschungsinstitut) hin.

Der Sozialdemokrat, der schimpft, nimmt an der Sitzung der 11. Abteilung im Kreisverband Spandau, in der Abteilung Gatow/Kladow teil. Die „Abteilungen“ der Berliner SPD bilden sozusagen ihre Ortsvereine, also die Basis der Partei in der Hauptstadt. Im Hinterzimmer des Gasthofs sitzen die Genossen in U-förmiger Sitzordnung an Tischen mit weißen und roten Tischdecken, über ihnen hängen eingerahmte Urkunden. Sie diskutieren gerade über den ersten von drei Tagesordnungspunkten: „Enteignung und Mietendeckel: Wie geht es weiter in der Berliner Wohnungspolitik“. Nur ein paar Stunden zuvor hatte der Berliner Senat die Eckpunkte des Mietendeckels beschlossen.

Wieso nicht ausprobieren?

Die Frage, wie die Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt am besten zu entschärfen ist, deckt sich im Kladower Hof fast mit der Frage, wie die SPD zu alter Kraft wiederfinden kann. An diesem Abend dauert diese Diskussion bei der Abteilungssitzung jedenfalls am längsten.

Ulrike Sommer ist die Abteilungsleiterin und hat Lars Rauchfuß, den SPD-Kreisvorsitzenden von Tempelhof-Schöneberg, eingeladen, der über das Thema referiert. Rauchfuß findet den Mietendeckel gut. Das ist auch mehr oder weniger Konsens in der Runde. Das mit dem Enteignungsvolksbegehren sieht der ­adrett aussehende und strukturiert sprechende blonde Mann in weißem Hemd skeptischer, er will die Möglichkeit, zu enteignen, aber nicht einfach ausschließen. Wieso nicht ausprobieren? lautet seine Devise.

Einen anderen Sozi, den jüngsten in dieser Runde hier im äußersten Westen Berlins, empört die Idee, dass irgendjemand enteignet werden soll. Er sagt: „Konzerne enteignen ist doch ein Ausdruck von Hilflosigkeit!“ Andere in der Runde fragen: Mit welchem Geld soll die Stadt die Wohnungen überhaupt kaufen?

Der Genosse im rosa Hemd, der wütet, sagt lauter als die anderen: „Wer hat euch denn gesagt, ihr sollt überhaupt anfangen, Geschäfte zu machen? Mit Volkseigentum? Keiner. Ihr habt keine Berechtigung, irgendwelches Volkseigentum zu verkaufen. Habt ihr aber gemacht. Und jetzt kommt ihr mit Enteignung, zur Hochzeit der Immobilienpreise. Zu welchen Preisen wollt ihr denn eigentlich zurückkaufen?“

„Ein linker Landesverband“

Wenn er über die historischen Fehler der SPD, auch der Berliner SPD spricht, dann adressiert er seinen Einwand an die Kreisvorsitzende Sommer und auch an den Genossen Rauchfuß, den Kreisvorsitzenden aus Tempelhof-Schöneberg. Er sagt dann immerzu: Ihr habt …, ihr seid …, ihr denkt … – die Kreisvorsitzende Sommer unterbricht ihn, ob er nicht „wir“ meine. Der Mann ist schließlich Mitglied der SPD.

Ein Sozialdemokrat, der bei einer Abteilungssitzung – da, wo die Basis zusammenkommt und diskutiert – über die SPD wütet, als würde er selbst nicht zu ihr gehören: Was sagt das über diese Partei aus?

Die Sozialdemokraten sind auf der Suche nach sich selbst. Auch die Berliner SPD. Vielleicht gerade sie, weil die Berliner SPD in der Hauptstadt mit zwei linken Parteien regiert und sich an ihnen messen lassen muss. Vielleicht, weil sie in Berlin gerade eine reale Chance hätte, sich auf ihre Ursprünge zu besinnen und die Herausforderung, das Gesagte auch umzusetzen, für sie viel greifbarer ist als für die Bundespartei, die seit geraumer Zeit mit Konservativen grokoisiert.

Die Berliner SPD sei „ein linker Landesverband“, sagt Annika Klose, die Berliner Landesvorsitzende der Jusos, im Interview mit der taz. Vielleicht ist das gerade das gegenwärtiges Problem der SPD? Jedenfalls drängt die Suche nach der Europawahl gerade auch in Berlin sehr: Bundesweit konnte die SPD nur 15,8 Prozent der Wähler für sich gewinnen, sie verlor gut 12 Prozentpunkte. In Berlin fiel das Ergebnis der SPD noch schlechter aus: 14 Prozent.

Der richtige Weg aus dem Strudel

Der richtige Weg aus dem Strudel, der die Partei immer mehr in die Bedeutungslosigkeit spült, ist umkämpft. Während die einen auf eine radikale Rückbesinnung auf das Sozialdemokratische setzen – was auch immer das ist –, wollen die anderen keine potenziellen Wähler verschrecken.

Jüngstes Beispiel: Einen Tag bevor der Berliner Senat die Eckpunkte zum Mietendeckel aus dem Hause der Bausenatorin Katrin Lompscher (Linke) beschließt – ein Beschluss, der als sicher gilt –, macht die Nachricht die Runde, dass ausgerechnet der sozialdemokratische Chef der Senatskanzlei, Christian Gaeb­ler, der Mann, der das Büro des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller schmeißt, doch noch an dem Papier rumformuliere, weitere Prüfungen in die Wege leiten wolle … Und die Eckpunkte möglicherweise doch nicht beschlossen, sondern nur zur Kenntnis genommen werden könnten. Schließlich wird das Eckpunktepapier mit geringfügigen Änderungen doch noch angenommen.

Dabei kam der Vorschlag zum Mietendeckel ursprünglich aus der Berliner SPD, unter anderem von dem stellver­tretenden Berliner Landesvorsitzenden Julian Zado und von Eva Högl, der direkt gewählten SPD-Bundestagsabgeordneten aus Mitte, die die Debatte im Januar mit einem Gastbeitrag im Tagesspiegel ins Rollen gebracht hatten.

Versammlung des Kreis­verbands Spandau, Abteilung Gatow-Kladow, im „Kladower Hof“ Foto: Stefanie Loos

Was heißt es, wenn sich der Berliner Vorsitzende der Sozialdemokraten anschickt, ein Projekt – im wohnungsnotgeplagten Berlin gar ein Prestigeprojekt wie den Mietendeckel –, zu kippen, das von den eigenen Leuten, anderen Sozialdemokraten, in die Wege geleitet wurde? Ein Ereignis, das beispiel- und symbolhafter für die Unentschiedenheit einer Partei nicht sein könnte.

Große Frage nach der Zukunft

Im Kladower Hof serviert derweil eine Kellnerin in hohem Alter eine Bockwurst mit Senf und einer halben Scheibe Toastbrot. Und die Spandauer Genossen diskutieren mal in sachlich-nüchternem Tonfall, mal mit leidenschaftlichen Brandreden weiter. Fließend geht die Debatte nun auch offiziell von der Stadtentwicklungspolitik zur großen Frage nach der Zukunft der SPD über.

Genossin Sommer sagt, die Sozialdemokraten müssten öffentlich über ihre Fehler sprechen, um wieder Glaubwürdigkeit beim Wähler zu gewinnen. Helmut Kleebank, der Bezirksbürgermeister von Spandau, entgegnet, man dürfe sich selbst jetzt nicht dauernd öffentlich mit Fehlern aus alten Zeiten geißeln. In dieser Frage kommt man in Spandau auf keinen gemeinsamen Nenner.

Rund 24 Kilometer nordöstlich von hier, im Kurt-Schumacher-Haus im Wedding, dem Sitz des Berliner Landesverbands der SPD, ist auch die Abteilung 16 der SPD Berlin-Mitte zu Hause, die Abteilung mit dem Namen „Grünes Dreieck“. Das denkmalgeschützte Haus in der Müllerstraße ist ein architektonisches Resultat der Nachkriegsmoderne, die Parteibuchstaben, die an der Fassade prangen, und auch die Fahnen, die an dem Gebäude wehen, machen im lebendigen Wedding einen eher altbackenen Eindruck.

Doch der Blick von außen kann täuschen. Innen, im Konferenzraum im ersten Stockwerk, dessen Wände abstrakte Kunst schmückt, sitzen gleich sechs junge Sozialdemokraten am Tisch. Der älteste ist 35 Jahre alt, die jüngste 19.

Lauter junge Akademiker

Was motiviert diese jungen Menschen, allesamt Akademiker, sich in einer Partei zu engagieren, die in den letzten Jahren vor allem im Zusammenhang mit ihrem Untergang genannt wird?

Leon Sixt, 27 Jahre alt, forscht über künstliche Intelligenz und ist erst vor einem Jahr in die ­Partei eingetreten. Als Grund dafür, dass er mit Ende zwanzig in eine Partei und dann auch noch in die SPD eingetreten ist, nennt er die „Grundwerte der SPD“.

Was sind diese Grundwerte? Sixt geht kurz in sich und sagt dann: „Solidarität und Gleichheit“. Er sagt, er möchte mit seinem Spezialwissen einen Beitrag zu diesen Werten leisten. Die Arbeit verändere sich mit der Digitalisierung, und diese Veränderung solle gerecht gestaltet werden.

Aushängeschild der Partei und immer wieder in der Kritik: SPD-Landes­vor­sitzender Michael Müller Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Die Motive in der Runde sind ganz unterschiedlich, aber speziell. Hier geht es kaum um die Geschichte der SPD, um Fehler der Vergangenheit oder große Fragen, sondern um konkrete Handlungen, die das Leben ein bisschen besser machen.

Mit 29 schon 15 Jahre in der SPD

Benjamin Vrucak (35) ist Beisitzer der Abteilung und engagiert sich in einem Projekt für die politische Mitbestimmung von Geflüchteten. Konkret heißt das, dass er Workshops für Geflüchtete organisiert, in denen Wissen über das politische System in Deutschland vermittelt wird. Vrucak ist zugleich verantwortlich für die AG Migration in der Abteilung.

Vera Weidmann (27) ist seit vier Jahren Parteimitglied und Mitarbeiterin im Bundestagsbüro von Katarina Barley. Sie berichtet vom „Loser-Moment“ nach der Wahlniederlage 2017, die Martin Schulz der SPD eingebrockt habe und die man irgendwie nicht abschütteln konnte. Sie berichtet von gentrifizierungsbedingten Herausforderungen im Kiez.

Alles Themen, die gegenwärtig großen Raum und Bedeutung im gesellschaftlichen Diskurs einnehmen. Wenn ihre Basis sich so intensiv, proaktiv, praktisch mit ihnen auseinandersetzt, sollte die Partei doch in der öffentlichen Wahrnehmung davon profitieren. Warum tut sie das nicht?

Moritz Fessler (29) ist derjenige in der Runde, der am längsten in der Partei ist: 15 Jahre. Er ist auch stellvertretender Vorsitzender der Abteilung „Grünes Dreieck“, er interessiert sich für Europapolitik, forscht in der Universität darüber und organisiert zusammen mit zwei Genossen die Veranstaltungsreihe „Interna­tionales im Kiez“, in der europapolitische Themen diskutiert werden unter Titeln wie etwa „Der lange Weg nach Westen? Polen zwischen Nationalstaat und EU“.

Irgendwie der Wurm drin

Fessler sagt „Die Partei trifft derzeit das Lebensgefühl der Menschen nicht“. Er erzählt von „thematischen Konjunkturen“, von denen die Grünen bei der Europawahl profitiert hätten, weil das Thema der Stunde die Klimakrise sei.

Die Problemanalyse im Kurt-Schumacher-Haus geht weiter. Aus dem Gespräch der jungen Sozialdemokraten geht auch hervor: Die SPD ist inhaltlich eigentlich ganz cool. Man leidet zwar ein bisschen unter der eigenen Geschichte, aber irgendwie ist gerade auch der Wurm drin. Der Wurm: vor allem ein Kommunikationsproblem – oder eben ein Marketingproblem. Über Personal und Parteispitze will hier dagegen niemand sprechen.

Manchmal kommt Unmut ­gegenüber den Grünen zum Vorschein. „Die sind doch alle weiß und Mehrheitsgesellschaft“, sagt Vrucak von der AG Migration. Aber auch er kommt auf das Kommunikationsproblem zurück. Vrucak sagt: „Die Grünen sind gerade kommunizerbarer als wir.“

Die sozialdemokratische Unsicherheit in der Kommunikation spürt man auch in dieser Runde: Fessler, der um Seriosität und Souveränität bemühte stellvertretende Vorsitzende, versucht das Gespräch zu lenken, beschwert sich über Journalisten, die zur Basis gingen, nur um dann einen Text über die angeblichen Gräben zwischen ihnen und der Parteiführung zu schreiben. Ein paarmal lachen Einzelne in der Runde, wenn das Wort „Basis“ fällt – dann hat man das Gefühl, dass sich die sozialdemokratische Basis im Wedding selbst irgendwie nicht ganz ernst nehmen kann.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!