Werthers Leiden im Massenmedium: Sturm und Drang auf Ebay
Mit „werther.live“ beweist ein junges Team um die Regisseurin Cosmea Spelleken, dass intimes, kluges und witziges Netztheater möglich ist.
Bei der Fülle an Online-Auftritten der Stadt- und Staatstheater in den letzten Monaten ist es bemerkenswert, dass erst eine junge freie Regisseurin ein ebenso junges Team zusammentrommeln muss, um zu zeigen, wie Theater im Netz funktionieren könnte. Ganz ohne den Anschein zu erwecken, man habe es mit einem „Sorry, geht gerade nicht anders!“-Ersatzprodukt zu tun oder mit einer Instant-Variante zum späteren Bühnen-Aufguss. Die Regisseurin heißt Cosmea Spelleken, ist 1995 in Bayern geboren, hat verschiedentlich Theater- und Filmluft geschnuppert und studiert seit September an der Filmakademie Wien.
Die drei Youngster, die in „werther.live“ Werther, seinen Intimus Wilhelm und Werthers Flamme Lotte spielen, kommen alle frisch aus der Schauspielschule. Sie wurden wurden vom Kernteam um Spelleken, Lotta Schweikert (Regieassistenz und Live-Schnitt) und Leonard Wölfl (Technik) über Online-Videocastings gefunden und stürzen sich auf das, was sich an Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ von 1774 als überzeitlich gültig erwiesen hat, mit dem Feuer echter Pioniere.
Wir erinnern uns: Es geht in diesem Sturm-und-Drang-Werk nicht nur um unglückliche Liebe und einen Suizid, der seinerzeit eine Selbstmordwelle nach sich zog, sondern auch um ein neues Massenmedium als emotionalen Brandbeschleuniger, damals das Buch. Umso folgerichtiger, dass das brandneue, von den Kulturämtern Karlsruhe und Freiburg geförderte Unternehmen „werther.live“ im Internet stattfindet und soziale Netzwerke und Videochat-Dienste bespielt.
Viele Textbälle zugleich in der Luft
Für die Zuschauer*innen heißt das: Die ganze heimische Bildschirmoberfläche wird zur Bühne, weil ein Werther von heute seinen Desktop mit uns teilt, während er sich durch seinen auch lockdownbedingt sehr verengten digitalen Alltag klickt: Mindestens Whatsapp, Facebook und Insta hat er immer nebeneinander offen und hält so viele Text- und Sprachnachrichten-Bälle zugleich in der Luft, dass es jedem Nicht-Digital Native schwindelig wird.
Termine: 27. Februar und 4. März, 20 Uhr, www.werther-live.de
Ja, der Coronalockdown spielt bei werther.live eine dramaturgisch wichtige Rolle. Statt eines Ballbesuchs lockt Skype-Bingewatching mit Wilhelm alias „Willi Schätzchen“ alias @freiherwilhelmdergrosse, den Florian Gerteis als dem Alk und allerlei Oberflächen zugeneigter Partyhipster spielt. Während Jonny Hoffs Werther von einem Mädchen träumt, mit dem er „sein bestes Selbst“ erleben kann. Lotte S. (Klara Wördemann) lernt er über Ebay-Kleinanzeigen kennen, und statt mit ihr im Wald spazieren zu gehen, trommelt bei ihrem ersten Zoom-Date der Frühlingsregen gegen zwei verschiedene Fenster.
Toll ist der bei aller verliebtheitsbedingten Befangenheit ungezwungen private Gestus des live improvisierten Spiels, das mit den Tippfehlern beim Live-Chat und einer jugendaffinen Sprache eine sehr heutige Illusionsmaschinerie anwirft.
Dass einen diese problemlos in ihren Bann zieht, liegt auch daran, dass man alles aus Werthers Perspektive wahrnimmt und damit praktisch in seinem Kopf sitzt. Da die junge Liebe hier so schiefgeht wie bei Goethe, geht man auch mit ihm unter. Je länger er Lotte, die sich inzwischen mit ihrem Freund Albert verlobt hat, nicht mehr sieht, desto intensiver stalkt er ihre Instagram-Seite und hält alle Kanäle offen, auf denen sie senden könnte.
Enger wird die Welt
Layer um Layer sieht man seine Welt auf dem eigenen Laptop enger werden. Sein Selbstmord wird durch die besessenheitsfördernde Lockdown-Situation auch psychologisch plausibel und tritt als beredtes neues Profilbild und ins Leere laufende Messenger-Nachrichten seiner Freund*innen in Erscheinung.
Bei der Premiere Anfang November haben das 120 Zuschauer mit Werther durchlitten. Ende Januar, als die Produktion bereits den Deutschen Multimediapreis MB21 gewonnen hatte und auf der Auswahlliste des Nachtkritik-Theatertreffens stand, waren rund 500 User zugeschaltet. In die 10er-Auswahl der Nachtkritik fand dieser besondere Crossmedia-Theaterabend aber auch aufgrund seiner Liebe zum (handgemachten) Detail. Werthers Insta-Profil ist mit von Spelleken selbst gebastelten Collagen bestückt.
An alle für die Performance eingerichtete Accounts kann man während wie außerhalb der Vorstellung schreiben. Damit auch der Draht zum ollen Goethe nicht abreißt, wird die Social-Media-Bildsprache regelmäßig von Szenen unterbrochen, in denen Werthers Hände Original-Goethe-Sätze in eine Olympia-Schreibmaschine tippen. So nehmen Bilder, Worte und die stürmenden und drängenden Gefühlszustände weit auseinanderliegender Zeiten Kontakt miteinander auf.
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