Werbeverbot für Süßigkeiten: Großer Kampf gegen kleine Laster
Die Politik diskutiert über ein mögliches Verbot von TV-Werbung für Süßkram. Verbände machen Druck. Doch die Spots sind längst Kulturgut geworden.
Ich war ein dickes Kleinkind. Nein, kein süßer Wonneproppen, wie man kleine Kinder mit Speckröllchen an den Unterarmen und Pausbäckchen gerne nennt. Bis ich ungefähr sieben war, wog ich doppelt so viel wie andere Kinder in meinem Alter. Alle in der Familie wussten, woran das lag: an meiner Oma. Meine Oma war eine herzensgute Frau, sie liebte mich, die erstgeborene Enkeltochter, über alles.
Und ich liebte sie über alles. Viele Wochen im Jahr verbrachte ich bei meinen Großeltern auf dem Dorf. In dieser Zeit gab es nicht nur vier vollständige Mahlzeiten, sondern zwischendurch Eis, Schokolade, Bonbons.
Ich fand das toll: endlich grenzenlos naschen. Zu Hause begrenzte meine Mutter den Süßigkeitenkonsum stark. Ich betone meine fetten Jahre so stark, weil es zu jener Zeit im Fernsehen keine Süßwarenwerbung gab, die mich zum vermehrten Kekskonsum animiert hatte. Ich war übergewichtig, weil Erwachsene versagt hatten.
Das ist heute anders. Heute ist nicht nur das Bewusstsein für gesunde Ernährung insgesamt gestiegen, heute sind Süßigkeiten ein Politikum. Da geht es nicht nur um die Food-Ampel und die Kennzeichnung von Zucker auf Lebensmitteln, sondern auch um das Verbannen von Süßigkeiten an der Kasse, der sogenannten Quengelware. Und es geht um ein Verbot von TV-Werbung für vermeintliche Kindersnacks, zumindest in der Zeit, in der auch Kinder Fernsehen schauen, in der Woche von 17 bis 22 Uhr und am Wochenende bis auf die Nachtstunden ganztägig.
Vertagt – auf irgendwann
Eigentlich wollte sich das Bundeskabinett am Mittwoch mit einem Gesetzentwurf beschäftigen, mit dem Ernährungsminister Cem Özdemir Spots für ungesunde Lebensmittel im Internet und Fernsehen stark einschränken wollte. Aber der Termin wurde abgesagt – bislang ohne Auskunft darüber, wann die Debatte wieder aufgenommen wird.
Und ja, der grüne Minister und ein Bündnis von Organisationen aus Medizin, Wissenschaft sowie Verbraucher- und Kinderschutz, darunter die Bundesärztekammer, der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, das Deutsche Kinderhilfswerk, Foodwatch, die jetzt in einem Brief ein „Verbotsgesetz“ noch vor der Sommerpause fordern – haben recht: Zu viel Zucker, Salz und Fett sind ungesund.
Wer mehr als genug davon zu sich nimmt, riskiert übergewichtig zu werden und Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck zu bekommen. Wenn es Kinder davon betroffen sind, ist es umso dramatischer. Das dürfte mittlerweile eine Binsenweisheit sein.
Eine Art Kulturgut
Und doch scheint der große Kampf gegen die kleinen Laster schwerer zu sein als gedacht. Nicht nur, weil FDP und Werbeindustrie Özdemirs Vorschlag für „politischen Aktionismus“ (FDP-Vize Wolfgang Kubicki) halten. Sondern auch, weil Fernsehwerbung so etwas wie ein Kulturgut geworden ist. Jedenfalls gehört Süßigkeitenreklame bei den Boomern so fest zur Kindheit wie die Kultserien „Dick und Doof“, „Flipper“ und „Vier Panzersoldaten und ein Hund“.
Wer von den heute 50- und 60-Jährigen kann nicht noch TV-Spots mitsprechen wie: „Nutella – Lebensbausteine für jeden Tag“. Oder die Unterhaltung zweier (schlanker) Frauen. Fragt die eine die andere, die gerade herzhaft in einen Schokoriegel beißt: „Du und naschen?“ „Ach, was naschen. Das ist doch Banjo – schmeckt toll und leicht.“ Am Ende ist der Riegel groß in der Kamera: „Banjo, so wird Naschen leicht gemacht.“ Oder der Schwung in der Langnese-Werbung, der in der erster Linie vom Beagle-Song „Ice in the sunshine“ kommt. Für manche Kinder war das möglicherweise das erste Lied, das sie in Englisch mitsingen konnten.
Gut möglich, dass Kinder sich gesünder ernähren, wenn sie keine Werbung für Haribo, Snickers und Duplo sehen. Das Grundproblem jedoch bleibt. Die Verantwortung liegt bei den Erwachsenen, Eltern, Pädagog:innen, Erzieher:innen. Wenn sie eine gesunde Ernährung vorleben, kombiniert mit Sport und, ach ja, ohne Alkohol- und Zigarettenkonsum, überträgt sich das auf Kinder. Und noch etwas: Preisgünstigeres Obst und Gemüse wären auch nicht schlecht. Die meisten Kinder lieben es.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt