: Wenn alle gehen, was wird dann aus Tuvalu?
Temotika Oten lebt seit ihrer Geburt auf der Pazifikinsel. In den nächsten Jahrzehnten könnte diese überschwemmt werden, die ersten Leute erhalten bereits ein sogenanntes Klimavisum für Australien. Warum sie für ihr Zuhause zu kämpft
Protokoll Chiara Bachels
Als ich das erste Mal von der Klimakrise erfuhr, war ich in der achten Klasse. Das Wort erklärte plötzlich das, was ich schon viel früher gespürt hatte. Ich sollte einen Essay darüber schreiben und verstand: Das ist der Grund für die zunehmende Anzahl an Zyklonen.
Früher hat niemand nach dem Grund für die vielen Stürme gefragt, die selbst während der Trockenzeit auftraten. Einmal war die Straße zu meinem Zuhause am nördlichen Ende von Funafuti, dem Hauptatoll von Tuvalus neun Inseln, völlig überflutet. Wir mussten unsere Fahrräder große Strecken schieben, um dann auf einer anderen Straße weiter weg von der Küste nach Hause fahren zu können. Manchmal fiel die Schule auch ganz aus, weil es mit den Stürmen zu unsicher war. Damals haben wir uns über die schulfreie Zeit gefreut, bis wir irgendwann bemerkt haben, wie ernst die Klimakrise ist.
Heute ist Tuvalu in aller Munde. Unsere Regierungsmitglieder reisen um die Welt, um von unserem Schicksal zu erzählen, also davon, wie die Klimakrise unser Land zerstört.
Es ist alarmierend, wie vieles sich verändert hat. Früher war es warm draußen, heute ist es so heiß, dass ich keinen ganzen Tag mehr in der Sonne aushalte. Das beeinflusst nicht nur unseren Alltag, es beeinflusst unsere ganze Art zu leben: wie wir Pflanzen anbauen, wie wir fischen. Fisch ist eigentlich unser Grundnahrungsmittel, aber große Fische kommen mittlerweile nur noch zu besonderen Anlässen auf den Tisch. Wir Tuvaluer:innen sind sehr mit der Natur verbunden. Deshalb verlieren wir, wenn Land, Meer und Pflanzen nicht mehr im Einklang sind, unsere Identität.
Manche Familien haben ganz besondere Verbindungen zur Natur. Etwa diejenigen, aus denen die besten Fischer kommen, sie wissen, wie sich die Gezeiten verhalten, wo die Fische gerade schwimmen und wo es gefährlich wird. Dieses Wissen wird aber nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben werden. Das Meer wird immer weniger zu dem Ort, von dem wir uns täglich ernähren können. Stattdessen essen Tuvaluer:innen zunehmend verarbeitete, importierte Lebensmittel, die Menschen hier sind deshalb häufiger übergewichtig und krank.
Aktuell ist die Falepili Union zwischen Tuvalu und Australien das meistdiskutierte Thema auf Tuvalu. Alle sind ganz aufgeregt. Es ist ein Sicherheits- und Migrationsabkommen, das es uns erlaubt, nach Australien umzuziehen – permanent oder nur für eine Zeit, wie wir möchten. Wir können dann dort leben, arbeiten und zur Schule gehen. Dieses Jahr wurden die ersten 280 Visa ausgestellt.
Einerseits ist das Abkommen eine tolle Möglichkeit. Besonders Leute mit Familien können dort einfacher Jobs finden. Neulich war ich selbst in Australien und dachte mir, dass hier alles so viel einfacher ist und ich mich hier sicher fühle. Ich müsste mir keine Sorgen machen, sondern könnte einfach jeden Tag zur Arbeit gehen und danach wieder nach Hause. Aber gleichzeitig frage ich mich: Wenn alle gehen, was wird dann aus Tuvalu?
Ein umstrittener BegriffGemäß der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 gibt es keine Klima- oder Umweltflüchtlinge. Laut Völkerrecht zählen nur Personen als Flüchtlinge, die aufgrund ihrer „Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ verfolgt werden. Während die Begriffe „Klimaflüchtling“ und „Klimaflucht“ in akademischen Kreisen verwendet werden, um auf Klimaveränderungen als Fluchtgrund aufmerksam zu machen, werden sie im medialen und politischen Kontext oft zur Abschreckung genutzt, um vor einer vermeintlichen Masseninvasion aus dem Globalen Süden zu warnen und damit eine restriktive Migrationspolitik zu rechtfertigen.
Heute schon geflohen …Laut dem Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) sind im Jahr 2024 45,8 Millionen Menschen infolge von Umweltkatastrophen innerhalb ihrer Landesgrenzen geflohen. Das sind mehr als doppelt so viele Binnenvertriebene wie die 20,1 Millionen Menschen, die aufgrund von Konflikten innerhalb ihres Landes Zuflucht suchen. „Die Mehrheit der Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen, um Konflikten, Gewalt und Katastrophen zu entkommen, überqueren keine internationale Grenze“, schreibt das IDMC auf seiner Website. Zu den am meisten betroffenen Ländern zählen etwa die USA, Philippinen, China, Indien, Bangladesch und Nigeria. Die Ursachen sind vielfältig: Wirbelstürme, Erdbeben, Überschwemmungen. Nur schlecht erfasst sind Migrationsbewegungen, die nicht durch plötzliche Ereignisse entstehen. Aber auch Wüstenbildung, der steigende Meeresspiegel und die Versalzung von Böden und Trinkwasser zwingen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen.
… und in Zukunft? Fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Gegenden, die der Weltklimarat IPCC als „sehr verletzlich“ gegenüber den Folgen des Klimawandels einstuft. Vor Ort treffen oft eine Reihe an Faktoren aufeinander, die eine klare Zuordnung fast unmöglich machen. Ein symbolisches, aber vielfach reales Beispiel: Eine Dürre führt zu ausfallenden Ernten, was wiederum zu Armut und Hunger unter Kleinbauern führt. Diese suchen deshalb neue Arbeit, finden aufgrund der ökonomischen Lage in ihrer Heimat jedoch keine. Schlussendlich migrieren sie. In den seltensten Fällen sprechen sie dann von sich selbst als Klimaflüchtling. Aufgrund dieser definitorischen Unklarheiten und unterschiedlichen Temperaturanstiegs- und Klimaszenarien reichen die Projektionen von einigen zehn Millionen bis zu mehr als einer Milliarde Menschen. „Seit über 30 Jahren versuchen wir, klimabedingte Wanderungsbewegungen vorherzusagen. Wir müssen ganz einfach zugeben, dass wir das nicht können“, sagt Guénolé Oudry von der französischen Entwicklungsagentur gegenüber Le Monde Diplomatique. (evs)
Wir können nicht einfach davonlaufen, nur weil eine Katastrophe auf uns zukommt. Dafür ist das, was wir in Tuvalu haben, zu einzigartig. Viele Bräuche, die uns ausmachen, könnten wir nicht mehr ausleben. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass Australien zulassen würde, dass ich frühmorgens auf einen Baum klettere und Toddy sammle. Das ist Saft aus den Blütenknospen von Kokosnussbäumen, der zu Palmwein weiterverarbeitet wird. Wir lieben ihn hier.
Andererseits verschwindet diese Tradition auch in Tuvalu langsam, weil die Bäume durch die Hitze nicht mehr viel Wasser haben. Unsere Kultur verändert sich durch die Klimakrise und durch die Migration. Ich finde es beängstigend, dass sie irgendwann komplett verschwinden wird. Zwar gibt es viele Pazifik-Gemeinden in Australien, die sich zum traditionellen Weben und Tanzen treffen. Aber ich glaube, dass Kultur in einem Land verwurzelt ist. Weil es nur dort alle Ressourcen gibt, um diese auch auszuleben.
Ich finde, ich habe eine Verantwortung gegenüber meiner Heimat, zu helfen. Außerdem ist es mein gutes Recht, hierzubleiben, selbst wenn Tuvalu fast versinkt. Ich weiß, dass viele Menschen gemischte Gefühle gegenüber dem Angebot der Falepili Union haben. Es wollen eben nicht alle Tuvalu verlassen und ganz woanders leben. Warum unterstützt Australien nicht verstärkt die Leute, die bleiben wollen?
Zum Beispiel uns, die in Organisationen bei der Klimaanpassung auf Tuvalu helfen. Wir pflanzen etwa Korallen im Meer oder destillieren Wasser mit Solarenergie in Regionen, die keinen Anschluss zu sauberem Trinkwasser haben. Zwar erhalten wir internationale Hilfe, durchaus zu großen Teilen auch von Neuseeland und Australien – aber Australien trägt als riesiger Kohle- und Gasproduzent trotzdem immer weiter zur Klimakrise bei.
Letztendlich können wir uns nur auf uns selbst verlassen. Wie könnte man anderswo sagen, dass man Tuvaluaner:in ist, wenn es Tuvalu nicht mehr gibt? Wir müssen für Tuvalu kämpfen und ein Zeichen für andere Länder setzen, sodass der Eindruck entsteht: Wenn diese kleinen Inseln sich vorbildlich verhalten können, warum macht es dann nicht die ganze Welt?
Temotika Oten ist 23 Jahre alt und Lehrerin an einer weiterführenden Schule sowie ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der NGO Fuligafou Youth.
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