Wenn Wohnen plötzlich illegal wird: Abgeklemmt
José González lebt mit Familie im Eigenheim am Rande Madrids. Doch Haus und Siedlung sind illegal entstanden, und das lässt man sie jetzt spüren.
O hne den Generator hätten wir die letzten Monate nicht ausgehalten“, erklärt José Maria González. Der 700 Watt starke Apparat steht auf der Terrasse zwischen Geräten für das Fitnesstraining. Vor nunmehr zwölf Wochen, am 17. November, fiel der Strom aus; ein Stück weiter, nur die Straße hinunter, bereits 40 Tage zuvor. „Seither ist er nicht wieder angestellt worden“, erklärt González, 55 Jahre, Feuerwehrmann. Knapp 5.000 Menschen haben seither keine Elektrizität, darunter 1.800 Kinder; und das in einem Winter, der so kalt ist und in dem es so viel geschneit hat wie schon lange nicht mehr in Spanien. Wie kann das angehen?
José Maria González wohnt mit seiner Frau Emily und vier Kindern im Alter von 10, 14, 18 und 20 Jahren im sogenannten Sektor fünf der Cañada Real vor den Toren Madrids. Die Cañada ist eigentlich ein historischer Viehtriebweg, der aber schon seit den 1950er Jahren auf knapp fünfzehn Kilometern nach und nach bebaut worden ist. Heute leben hier in sechs Sektoren rund 9.000 Menschen. Der Grund, auf dem sie wohnen, ist unveräußerliches Land in Gemeinbesitz. Die Siedlung gilt damit als illegal, offiziell hing sie nie am Stromnetz, und doch ist die Elektrizität niemals abgestellt worden. Bis jetzt. „Unmenschlich“ sei das, was nun geschehe, schimpft González. Denn bei Weitem nicht alle Nachbarn hätten genügend Geld für einen Generator und das notwendige Benzin, um diesen anzutreiben.
„Zum Glück heizen wir mit einem Holzofen und haben einen Gasherd“, sagt der Familienvater, der erst vor wenigen Tagen für 500 Euro Batterien installiert hat. Die lädt er mit dem Generator auf. „Damit läuft dann der Kühlschrank rund um die Uhr und wir können Computer und Handys aufladen“, sagt er.
Das ist ihm wichtig. Denn seine Frau, eine US-Amerikanerin, verdient ihr Geld als Übersetzerin und die Kinder sind im Online-Unterricht. Auch am Samstagmorgen sitzen die vier am Tisch im Wohnzimmer voller Bücherregale und arbeiten. Die beiden Kleinen – Sofia und Ana – gehen auf die Grundschule und das Gymnasium. Der 18-jährige Manuel macht eine Ausbildung zum Techniker für Katastrophen- und Notfallhilfe, und die Älteste, Ruth, studiert an der Universität in Madrid Psychologie. Eine ganz normale Mittelschichtfamilie in einem ganz normalen Häuschen mit Garten und Schwimmbecken also – wäre da nicht der Ort, die Cañada Real.
Als Bewohner einer Slumsiedlung stigmatisiert
„Sie stigmatisieren uns von jeher“, beschwert sich González. So mancher Kollege habe ihn hier lange nicht besuchen wollen. Die Kinder würden in der Schule und Universität auch öfter schräg angeschaut. „Auch dieser Tage ist in den Berichten über die Stromabschaltung wieder einmal von Europas größter Slumsiedlung die Rede“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Slumsiedlung? Nein. Irreguläre Bebauung? Klar!“, fügt er dann hinzu.
Weder sein Haus noch das der meisten Nachbarn will in das Bild einer Elendssiedlung passen. Abgesehen vom Sektor sechs, wo nach dem Abriss von Häusern durch die Behörden in den letzten zehn Jahren vor allem Immigranten aus Nordafrika sowie Sinti und Roma Hütten zusammengezimmert haben, stehen hier überall größere und kleinere Häuser, errichtet im Eigenbau, oft vom Feinsten.
González nutzt seinen freien Tag, um im Garten aufzuräumen, nachdem endlich Schnee und Eis weggetaut sind. Der große, kräftige Mann trägt Gummistiefel und seine Feuerwehrhose. Am Gürtel hängt ein Multitool und ein Schraubkarabiner. Er erzählt aus seinem Leben. Im Alter von 16 Jahren sei er aus einem winzigen Dorf im Nordwesten Spaniens nach Madrid gekommen – raus aus der Enge in die raue Stadt.
„Zuerst arbeitete ich im Gaststättengewerbe. Dann bestand ich die Aufnahmeprüfung bei der städtischen Feuerwehr“, erzählt er. Im Jahr 1992 bot ihm ein Onkel sein 800 Quadratmeter großes Grundstück mit einem kleinen Häuschen in der Cañada an. Nach und nach baute er es zu der 130-Quadratmeter-Wohnung von heute aus.
„Klar wusste ich, dass dies nicht legal war, dass ich nicht einmal offiziell das Land besitzen würde“, gesteht er ein. Aber das Leben am Stadtrand, dort wo bis heute die Olivenhaine beginnen, das war ganz nach seinem Geschmack. Die meisten Nachbarn seien wie er von weit her gekommen, viele aus Andalusien und Extremadura. Sie konnten und wollten sich einfach keine Wohnung in der Stadt leisten. González gehört zu denen, die von der ersten Generation der Cañada-Bewohner nach und nach die besetzten Grundstücke und die Häuser übernommen haben – gegen eine „Überlassungsgebühr“ und einen Handschlag.
Nach getaner Arbeit spaziert González durch die Cañada, eine einzige Straße, die so weit das Auge reicht rechts und links bebaut ist. Auf dem Weg geht es vorbei am Gelände des Nachbarschaftsvereins, dem hier so gut wie jeder angehört und der für die Legalisierung der Siedlung kämpft, und an einer Moschee. „In den letzten 10 bis 15 Jahren kam erneut ein Wandel. Viele Immigranten aus Marokko haben sich hier eingekauft“, sagt González. Sie machten heute rund die Hälfte der Bewohner aus. Probleme gebe es keine, beteuert er.
González bleibt ab und an stehen, hält ein Schwätzchen und schaut dann einem jungen Nachbarn mit dem Namen Mohamed bei der Arbeit zu. Dieser nutzt den Stromausfall, um den Anschluss seines Hauses, einen Schaltkasten mit dickem Kupferkabel, in Ordnung zu bringen. „Alles professionell gemacht“, beteuert González.
Der Energieversorger gibt sich unschuldig
„Wir haben hier in unserem Sektor 1995 Strom und Wasser installiert“, berichtet er. Zwei Trafohäuschen, Schaltkästen an jedem Grundstück, ordentlich berechnete Kabel unter dem Boden, das Projekt habe ein Fachmann entworfen. „Als es fertig war, sind wir zum Energieversorger und haben darum gebeten, uns Verträge zu geben und Zähler zu installieren. Sie sind nie darauf eingegangen.“
Nach Angaben des Energieversorgers Naturgy seien die Bewohner der Cañada selbst am Stromausfall schuld. Es gebe Hallen mit Marihuanaplantagen weiter hinten im Sektor sechs. Deren übergroßer Stromverbrauch habe das ganze System kollabieren lassen.
González will gar nicht bestreiten, dass es solche Hallen geben könnte. „Doch die waren schon länger da, warum also jetzt?“, fragt er. Nachbarn hegen den Verdacht, dass Naturgy die Leistungsfähigkeit der Stromleitungen, an die sich die Cañada angehängt hat, heruntergesetzt hat. Der Nachbarschaftsverein hat beim Amtsgericht Madrid Klage eingereicht – wegen eines Verbrechens gegen die Gesundheit der Menschen. Viele Kinder seien durch die niedrigen Temperaturen in den letzten Monaten schwer erkrankt. Das Gleiche gelte für ältere Menschen.
Der Kampf für Strom und Bleiberecht
„Ich verstehe nicht, wie die Gemeindeverwaltungen und die Regionalregierung das zulassen können“, beschwert sich der Nachbar von González. Zwischen ihren Grundstück gibt es eine Tür, die stünde immer offen. „Unsere Kinder sind befreundet und gehen ständig hin und her“, erklären García. Der 52-Jährige ist Architekt und arbeitet für ein Bauunternehmen. Seine Freizeit widmet er dem Anwohnerverein, dem er vorsteht. Immer wieder habe er verhandelt, meist vergebens. Die Cañada Real liegt auf Gemarkungen gleich mehrerer Gemeinden. Doch egal welcher Couleur die jeweiligen Bürgermeister seien, die Behörden würden die Notlage ignorieren.
García und der Anwohnerverein fordern die Legalisierung der Häuser in ihrem Sektor fünf. Andernorts in Madrid und im restlichen Spanien seien schließlich irreguläre Bauten auch legalisiert worden. „Die Verwaltung hat jahrzehntelang weggeschaut. Die Leute haben zuerst ein Gelände abgesteckt. Es passierte nichts. Dann haben sie es eingezäunt, wieder passierte nichts. Dann haben sie ein Haus gebaut und wieder passierte nichts“, sagt er, der selbst seit 17 Jahren hier lebt und ein zweistöckiges Einfamilienhaus sein Eigen nennt.
Seit gut drei Jahren existiert ein Abkommen über die Siedlung, in dem die Probleme zumindest anerkannt und Lösungen versprochen werden. Doch der vorgesehen Aktionsplan, der eine bessere Infrastruktur vorsah, ist nie wirklich umgesetzt worden.
Was mit den Nachbarschaftsvereinen bisher ausgehandelt worden ist, betrifft die Zukunft einzelner Sektoren. Sektor eins und zwei sind jetzt endgültig legalisiert, da sie längst von Siedlungen einer Vorstadt absorbiert worden sind. Der kleine Sektor drei wird abgerissen, da er zwischen zwei Schnellstraßen und einer Schnellstrecke der Eisenbahn liegt. Sektor sechs muss ebenfalls weg. Bleiben die Sektoren vier und fünf. „Über sie soll bis Ende des Sommers entschieden werden“, berichtet García.
González, der nach Hause zurückgekehrt ist, hofft, dass es für sie gut ausgeht. „Auch vier und fünf liegen längst am Rande von Siedlungen, die in den letzten Jahren entstanden sind, und könnten dort problemlos eingegliedert werden“, sagt er beim Kaffee und einem Bananenkuchen nach amerikanischem Rezept. Das Feuer im Holzofen knistert. Es ist mollig warm im Wohnzimmer. Dann wird der Familienvater nachdenklich: „Das Leben hier ist hart“, gesteht er ein. Nach kurzer Pause fügt er hinzu: „Missen möchte ich es dennoch nicht. Ich brauche dieses Gefühl zu wohnen, als wäre ich auf dem Land.“
Nur der liebgewordene Blick auf die Olivenhaine könnte schon bald Geschichte sein. Erst vor wenigen Wochen wurde ein Bebauungsplan veröffentlicht, der vorsieht, dass die Hauptstadt Richtung Cañada Real wachsen soll, dort wo heute noch Äcker liegen.
Die meisten Nachbarn hier glauben, dass die Stromabschaltung die Menschen dazu bewegen soll, aufzugeben und zu gehen. „Zumindest entschädigen müssten sie uns dann, damit wir irgendwo anders neu anfangen können“, sagt González. Doch dann flammt plötzlich wieder dieser Funke in ihm auf, durchzuhalten: „Gehen, damit andere bauen? Niemals!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr