Welthandelsorganisation in der Krise: Neuer Anlauf für die WTO
Die Welthandelsorganisation steckt in einer grundlegenden Krise. Darin steckt auch die Chance für Ngozi Okonjo-Iweala, die neue WTO-Chefin.
Azevêdo war im Mai 2020 vorzeitig zurückgetreten – aus Frust über die anhaltende Blockade der WTO: Seit mehr als 20 Jahren haben sich die Mitgliedsstaaten nicht mehr auf ein Handelsabkommen einigen können. Seit 2018 sabotieren die USA mit den Streitschlichtungsmechanismen auch die zweite Kernfunktion der Organisation.
Bereits Anfang November hatten sich 163 der 164 WTO-Mitglieder nach einem Auswahlverfahren unter acht Bewerberinnen auf Okonjo-Iweala geeinigt. Lediglich die Trump-Administration in Washington blockierte den erforderlichen Konsens und hielt an der südkoreanischen Kandidatin Yoo Myung Hee fest. Erst als diese Anfang Februar ihren Rückzug erklärte, machte die neue US-Regierung unter Joe Biden den Weg frei für Okonjo-Iweala.
In der Genfer WTO-Zentrale hofft man jetzt, dass Washington auch bald dafür sorgt, dass die Schlichtungsverfahren bei Handelsstreitigkeiten wieder durchgeführt werden können. Seit 1995 hatten die Mitgliedsstaaten bereits mehr als 600-mal auf den Mechanismus zurückgegriffen. Unter anderem warfen sich die USA und die EU gegenseitig vor, WTO-Handelsverträge durch verbotene staatliche Subventionen für die Flugzeughersteller Boeing und Airbus zu verletzen.
Streit um Patente für Corona-Impfstoffe
Ein WTO-Streitbeilegungsverfahren beginnt mit bilateralen Konsultationen, die im Idealfall zu einer einvernehmlichen Lösung führen. Scheitern diese, werden auf Antrag der beschwerdeführenden Partei unabhängige Streitschlichtungsgremien, sogenannte Panels, eingesetzt. Ein Panel kann Empfehlungen aussprechen, etwa dass wirtschaftliche Nachteile, die ein klagender Staat durch Verstöße eines anderen Landes gegen bestehende Verträge erlitten hat, mit Geldzahlungen kompensiert werden. Legt eine Partei Rechtsmittel ein, geht das Verfahren an eine Berufungsinstanz.
In dieser sitzen sieben RichterInnen, die für jeweils vier Jahre gewählt sind. Kommt die unterlegene Partei den Empfehlungen der Streitschlichtungsgremien nicht nach, kann das Streitbeilegungsgremium die obsiegende Partei zu Handelssanktionen autorisieren. In einer ihrer letzten Entscheidungen 2019 erlaubte die Berufungskammer den USA im Streit über Subventionen für Airbus Handelssanktionen gegen die EU.
Insgesamt haben die USA allein über 80 der 600 Streitschlichtungsverfahren angestrengt und in der Mehrzahl gewonnen. Dennoch behauptete bereits die Obama-Administration, die USA würden in den Verfahren unfair behandelt. Unter Trump blockierten die USA ab 2018 die Neubesetzung frei werdender Stellen für die RichterInnen der Berufungskammer, bis im Dezember 2019 nur noch ein amtierender Richter übrig blieb. Seitdem ist die Kammer handlungsunfähig.
Antrag Indiens und Südafrikas wegen Corona
Derzeit gibt es allerdings noch aktuellere Probleme: Am 16. März soll der WTO-Rat nach bislang fünf ergebnislosen Verhandlungsrunden endlich über den bereits seit Anfang Oktober vorliegenden Antrag Indiens und Südafrikas entscheiden, Patente der großen Pharmakonzerne auszusetzen, um eine dem weltweiten Bedarf gerechte Produktion und Verteilung von Corona-Impfstoffen zu ermöglichen.
Dieser Antrag wird von weit über 100 WTO-Mitgliedstaaten unterstützt, bislang aber von den Ländern, in denen die weltgrößten Pharmakonzerne sitzen – USA, Deutschland, Frankreich, Schweiz, Japan, Großbritannien –, und auch von der EU-Kommission blockiert.
In ihren Bewerbungsreden hatte Okonjo-Iweala erklärt: „Es muss einen gleichen Zugang zu Medizin geben und die WTO könnte Teil der Lösung sein.“ Sollte sie diese Lösung tatsächlich herbeiführen, würde sie schon in ihrem ersten Amtsjahr zur erfolgreichsten Generaldirektorin der WTO-Geschichte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich