„Wellenbrecher“ ist Wort des Jahres: Der Gewalt Herr werden
Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat „Wellenbrecher“ zum Wort des Jahres gewählt. Eine Glosse zu den Assoziationen über Corona hinaus.
Bei einem in Küstennähe sozialisierten Menschen löst das Wort „Wellenbrecher“ sofort Assoziationen aus, ja, auch gleich körperliche Reaktionen: Man stemmt die Füße fest und leicht hintereinander versetzt auf die Erde, lehnt sich leicht nach vorn und spannt heroisch die Haltungsmuskulatur an. Nicht immer nämlich wirken die Wellen so entspannt, wie Uwe Johnson sie am Anfang seiner „Jahrestage“ beschrieb: „Lange Wellen treiben schräge gegen den Strand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Stand kippen.“
Da hat man auch schon ganz andere Wellen gesehen, solche, wie Joseph Conrad sie schildert, etwa in „Der Niemand von der Narzissus“: „Eine mächtige, schaumbedeckte See kam aus dem Dunst auf sie zu und stürzte sich wild aufheulend auf das Schiff.“
Es sind solche Bilder von Unausweichlichkeit und Überwältigung, die die einschlägigen Leute vielleicht auch im Hinterkopf hatten, als sie sich entschieden, den Anstieg von Coronafällen in der Wellen-Semantik zu beschreiben. Als die vierte Welle sich in den Grafiken vor einem aufbäumte, zog man tatsächlich unwillkürlich den Kopf ein.
Zum Thema „Wellenbrecher“ wäre noch zu sagen, dass sich an der deutschen Nordseeküste die zentralen Konzepte längst grundlegend gewandelt haben. Unsereiner hat noch in den Höhlen gespielt, die den Dünen Sylts vorgelagerte Tetrapoden gebildet haben. Mächtige vierfüßige Betonklötze waren das, an den Strand gekippt in der Hoffnung, damit der Gewalt der Wellen ein für allemal Herr zu werden und die Küste somit schützen zu können.
Was nicht funktionierte. Weshalb man es nun anders macht. Jährlich wird wieder Sand an den Strand gespült und gebaggert, längst hat er die Tetrapoden unter sich begraben, und der in den Winterstürmen vom Meer abgetragene Sand wird im Sommer erneuert, sodass er sich erneut als Schutz vor die Insel legt.
Nicht harter Beton, sondern flüchtiger Sand ist der beste Wellenbrecher – was zum Coronakomplex gut passt: Nur die Summe vieler teilweise winzig kleiner individueller Einzelmaßnahmen von Kontaktvermeidungen über Impfentschlüsse bis hin zur Maskendisziplin – jedes für sich nur ein Sandkörnchen – kann die Welle brechen. Soviel auch zur Meldung, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache „Wellenbrecher“ gerade zum Wort des Jahres gewählt hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“