Weihnachtsmarkt in Magdeburg eröffnet: Glühwein hinter Betonklötzen
Ein Jahr nach der Amokfahrt eines 50-jährigen Mannes eröffnet der Magdeburger Weihnachtsmarkt. Bis zuletzt stand alles auf der Kippe.
Um kurz nach elf Uhr dreht sich das Karussell zum ersten Mal in diesem Jahr. Es ist bitterkalt auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg. Nur ein Kind fährt im Karussell mit, aber es lacht und kichert für drei. Aus den Lautsprechern dudelt eine Version des bekannten Lieds „White Christmas“. Die anderen Stände drumherum verströmen den Geruch von Bratwurst und Glühwein. Es ist eine besondere Weihnachtsmarkteröffnung: Vor elf Monaten fand an dieser Stelle ein Anschlag statt, der sechs Menschen das Leben kostete.
Mit einem SUV fuhr am 20. Dezember ein 50-jähriger Mann durch die Menschenmenge auf dem Alten Markt. Er tötete fünf Frauen und einen neunjährigen Jungen. Mehr als 300 weitere Menschen verletzte er schwer.
Ein Jahr später: In den kleinen Häuschen gibt es Salzwedeler Baumkuchen, Holzkunst aus dem Erzgebirge und syrische Falafel in Herzform. Laut dem Veranstalter haben sich für den Weihnachtsmarkt in diesem Jahr mehr Bundenbetreiber:innen beworben als im Vorjahr. Nur einer habe nach dem Anschlag gesagt, dass er das nicht mehr könne und wolle. Die Häuschen stehen etwas anders angeordnet: Die Gasse, auf der der Täter bis auf 48 km/h beschleunigte, die gibt es nicht mehr.
Bei der Ampel an der Ernst-Reuter-Allee, von der der Täter sein Auto auf den Weihnachtsmarkt lenkte, reihen sich rote und grüne Betonklötze aneinander. An manchen Stellen stehen nun Sandsäcke und Metallgitter davor oder dahinter. In den Lücken, durch die Fußgänger:innen auf den Weihnachtsmarkt gelangen sollen, ragen schwarze Poller in die Höhe.
Stopp wegen Sicherheitsbedenken
Ob der Weihnachtsmarkt in diesem Jahr eine Genehmigung bekommen würde, war vor einer Woche noch gar nicht klar. Aufgrund von Sicherheitsbedenken hatte das Landesverwaltungsamt die Stadt angewiesen, zunächst damit zu warten.
Die Kritik lautete etwa, dass der Zufahrtsschutz nur bis zu 3,5 Tonnen zertifiziert sei. Gegen schwerere Fahrzeuge schütze er nicht zuverlässig. Laut Stadt sei es in den wenigen Tagen bis zum Weihnachtsmarkt nicht möglich, einen höher zertifizierten Schutz zu bekommen. Darum hat die Stadt am Montag in der Innenstadt ein Verbot für alle Fahrzeuge erlassen, die mehr als 3,5 Tonnen wiegen. Das Landesverwaltungsamt ist damit offenbar zufrieden.
Beim Weihnachtsbaum auf dem Markt lehnt sich Paul-Gehard Stieger am Donnerstag an einen Stehtisch. Der Geschäftsführer der Weihnachtsmarkt GmbH in Magdeburg wirkt froh, dass die ersten Menschen über den Markt strömen. Die ganze Diskussion um das Sicherheitskonzept sei mehr oder weniger ein normales Verwaltungsverfahren gewesen, sagt er.
Trotz allem guten Mutes
„Wir rechnen damit, dass der Weihnachtsmarkt trotz des Anschlags gut besucht wird“, erzählt Stieger. Also trotz des Schreckens viel Spaß, Glühwein und Bratwurst? „Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Es gibt da kein richtig und falsch“, findet der Geschäftsführer. Er habe Verständnis für alle, die nicht auf den Weihnachtsmarkt kommen können. Aber mit Blick in Richtung des Täters, der in diesem Moment einen Kilometer entfernt vor Gericht sitzt, sagt er, „wir dürfen diesen Menschen nicht gewinnen lassen“.
Das denken auch andere. Um kurz vor zwölf Uhr mittags schlendert Holger Sperling mit einer Tüte süßen Schmalzgebäcks über den Weihnachtsmarkt. Auf seiner blau-schwarzen Jacke prangt das Logo des 1. FC Magdeburgs. „Man darf sich nicht unterkriegen lassen“, sagt er. Deswegen halte er es für gut, dass der Weihnachtsmarkt trotz des Anschlags vom Vorjahr wieder stattfinde. „Es kann nicht einer über das Leben aller bestimmen.“
Eine andere Meinung vertritt Silke Kunkel. „Hier sind im letzten Jahr Menschen gestorben. Da kann ich nicht nachvollziehen, dass hier Menschen stehen und sich amüsieren“, sagt die Magdeburgerin. Sie sei nur einmal so über den Weihnachtsmarkt gelaufen. „Ich bin nicht hier, um mir hier irgendwas zu kaufen.“ Dass der Weihnachtsmarkt in diesem Jahr wieder auf dem Alten Markt aufgebaut sei, finde sie befremdlich. „Man hätte das genauso gut auf dem Domplatz machen können.“
Silke Kunkel, Weihnachtsmarkt-Besucherin
Auf der anderen Seite des Weihnachtsmarkts, beim Riesenrad, schaut sich Werner Redlich jeden Laden an. Nachdem er gehört habe, dass der Weihnachtsmarkt öffne, wollte er wissen, welche Stände es in diesem Jahr gibt. Macht er sich Gedanken wegen des Anschlags? Der sei im Hinterkopf, sagt Redlich mit einem Nicken. Aber er fühle sich sicher. Überall sei mehr Polizei zu sehen. Die Absperrung sehe besser aus als im Vorjahr. „Ich komme gerade so mit dem Rollstuhl durch.“
„Die Täter haben nicht gewonnen“
Direkt nach dem Anschlag vor einem Jahr häuften sich in Magdeburg rassistische Übergriffe. Betroffen war damals auch Saeed Saeed, Vorstandsvorsitzender des syrisch-deutschen Kulturvereins und Mitglied im Integrationsrat der Stadt Magdeburg. Ein Mann ging in der Straßenbahn auf ihn los. An diesem Donnerstag steht Saeed auf dem Weihnachtsmarkt vor der Imbissbude. Bevor er sich ein paar Falafeln bestellt, erzählt er der taz, dass er froh über die Eröffnung des Weihnachtsmarkts sei. „Es ist ein starkes Zeichen“, findet er. Der Täter habe nicht gewonnen. „Wir müssen zusammenhalten und solidarisch bleiben.“
Damit meine er auch, sich gemeinsam Rassismus entgegenzustellen. Denn die Sorge sei da, dass mit dem Weihnachtsmarkt auch wieder die Zahl rassistischer Übergriffe steige. Die Ablehnung von Migrant:innen gebe es ja auch so immer noch, sagt er und verweist auf die Stadtbild-Debatte, die kürzlich Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) angestoßen hat. Saeed zeigt auf den Falafelstand auf dem Weihnachtsmarkt, „das ist auch Teil des Stadtbilds“.
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