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Weihnachtsessen in FrankreichWenn Apfelplantagen Weinbergen weichen

Die Normandie ist berühmt für Cidre, Calvados und Meeresfrüchte. Doch der Klimawandel verändert Land und Meer.

An der Küste bei Granville in der Normandie: der Klimawandel verändert das Land und das Meer Foto: Martin Roche/MAXPPP/imago

Franzosen und Französinnen essen gern, essen gut. Wunderbar verallgemeinernde Sätze, die, wie alle Klischees, einen wahren Kern haben – zumindest für diejenigen in Frankreich, die es sich leisten können. Besonders in Küstennähe mag man Fisch, und besonders beliebt sind Meeresfrüchte, ob Langusten oder Garnelen, Krabben oder Hummer, Seeigel, Schnecken, Austern oder Muscheln. Wer einmal in einem Restaurant wagemutig „Crudités de mer“ bestellt hat, anschließend vor einem Berg auf Eis thronender Meereskrustentiere saß und nicht wusste, mit welchem der gereichten filigranen Instrumente er oder sie ihnen zu Leibe rücken sollte, wird nicht widersprechen.

Die Ware muss gut und frisch sein. Auch dafür wurden in den vergangenen Jahren Gütesiegel und Fangquoten eingeführt. Sie sind der Versuch, die regionale und nachhaltige Fischerei zu stärken und sich am Markt gegen Billigimporte aus Drittländern zu behaupten. In der Criée, der riesigen Fischauktionshalle der normannischen Hafenstadt Granville, wird ausschließlich mit lokalen Erzeugnissen gehandelt. Hier treffen sich täglich die Profis, Fischerei- und Zuchtbetriebe auf der einen, Großhändler und Restaurantbetreibende auf der anderen Seite.

Einmal im Jahr, am ersten Oktoberwochenende, wenn die Saison der Jakobsmuscheln startet, wird die Criée de Granville für alle geöffnet. Die Veranstaltung nennt sich „Toute la mer sur un plateau“ (Das ganze Meer auf einem Teller), hier fließt der Cidre, werden Austern und Jakobsmuscheln vor Ort verköstigt oder in 10-Kilo-Säcken weggeschleppt. Mit dem vermeintlichen Chic einer Austernbar im Berliner KaDeWe hat das nichts zu tun; es ist ein Volksfest, bei dem am späten Nachmittag Familien auf langen Bänken leicht alkoholisiert zusammenrücken, vor sich leere Pappteller und Pappbecher, und überlegen, ob sie wirklich gegen den Wind draußen den Weg nach Hause antreten sollen. Allein zum diesjährigen Festival kamen 25.500 Besucher:innen. 22 Tonnen Muscheln und Krustentiere wurden verkauft, davon 16 Tonnen Jakobsmuscheln.

Die Coquille Saint-Jacques, benannt nach den mittelalterlichen Jakobspilgern, die sie als Erkennungszeichen trugen, ist in Frankreich sehr beliebt, sehr begehrt. Sie hat festes, nussig schmeckendes Fleisch, das roh, kurz gebraten oder gratiniert genossen werden kann. In der Fischauktionshalle von Granville stehen am Festwochenende an langen Tischreihen Freiwillige bereit, die die großen Muscheln mit ihrer rötlichen Färbung öffnen. Man kann sie gleich essen oder mitnehmen. Zuhause wird das Muschelfleisch eingefroren und spätestens Weihnachten oder Silvester zubereitet.

Die Normandie ist in Frankreich marktführend bei den Jakobsmuscheln, zwei Drittel des Verkaufs stammt von hier. Von Granville aus gehen über den Großhandel jedes Jahr 3.200 Tonnen Jakobsmuscheln in die ganze Republik. La Manche (Ärmel) heißt das Département, in dem Granville auf einem Felszipfel in den Ärmelkanal ragt. Hier stimmt für die Jakobsmuschel so ziemlich alles: Wassertemperatur, starker Gezeitenwechsel, sandiger Boden, hohes Planktonaufkommen. Bis zu 20 Jahre alt kann die Muschel werden und wie ein Baum Jahresringe ansetzen. Gefischt werden darf sie erst, wenn sie nach zwei bis drei Jahren eine bestimmte Größe erreicht hat. Der Fang ist streng reglementiert; von Mitte Mai bis Ende September soll sie sich in Ruhe fortpflanzen können.

Doch trägt der Klimawandel nicht nur zur Erosion der felsigen, rund 600 Kilometer langen normannischen Küste bei – der Meeresspiegel könnte bis zum Jahr 2100 um einen Meter steigen, die Bunkeranlagen des Zweiten Weltkriegs im Meer verschwinden, sagt ein Bericht des IPCC. Gefährdet sind auch die Fisch- und Muschelbestände, weil das Meer an Verschmutzung, Vergiftung, Versauerung und Versalzung leidet. Die Wassertemperatur ist im Zeitraum der letzten 40 Jahre durchschnittlich um etwa 1,5 Grad gestiegen. Dadurch entstehen mehr mikrobakterielle Erreger, sie machen die wasserfilternden Muscheln besonders krankheitsanfällig, so wie auch Algengifte.

Die Seespinne verweilt mehr Zeit im Jahr in Küstennähe und frisst sich durch die Bestände der Weich- und Schalentiere

„Wir sind in einer Phase des Übergangs“, sagt Laurence Hégron-Macé vom Forschungszentrum SMEL in Granville. „Der Klimawandel gefährdet manche einheimischen Arten wie die Wellhornschnecke, andere wiederum kommen neuerdings aus dem Mittelmeer bis zu uns: Thunfisch, Tintenfisch, Seebarsche. Die Fischer werden sich anpassen müssen.“ Das tut auch die einheimische Seespinne, eine Riesenkrabbe mit langen Beinen, die als Delikatesse gilt. Durch die wärmere Wassertemperatur verweilt sie nun mehr Zeit im Jahr in Küstennähe und frisst sich durch die Bestände der normannischen Miesmuscheln und anderer Weich- und Schalentiere. Für die Muschelzüchter wird das zunehmend ein Problem, in manchen Jahren büßen sie an die 20 Prozent ihrer Produktion ein.

Im Oktober startet die Saison der beliebten Jakobsmuscheln Foto: Franck Castel/imago

Neuerdings wird die Seespinne wissenschaftlich getrackt. Laurence Hégron-Macé steht in Granville an einem Stand, wo sie über ein neues Projekt des SMEL informiert. Fischer können die Seespinnen abliefern, sobald sie ihnen ins Netz gehen, dann bekommen die Tiere einen GPS-Tracker verpasst und werden wieder ins Wasser gesetzt. Sollten sie sich später noch einmal fangen lassen, kann man so ihre Wanderrouten nachverfolgen.

Auf den Verkaufstischen in Granville liegen mehrere der Prachtexemplare aus, noch lebend bewegen sie ihre Scheren. Zur Zubereitung werden sie wie Hummer ins kochende Wasser geschmissen. Zimperlich ist man nicht in der französischen Küche.

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Ob man in ein paar Jahrzehnten an den Festtagen zum Jahresende Seespinne verzehrt statt Jakobsmuscheln oder Schnecken? Oder stattdessen ein Boeuf Cidré vorzieht? Denn auch das kommt aus der Normandie. Mit ihrem feuchten, aber milden Klima ist sie die am stärksten landwirtschaftlich geprägte Region Frankreichs.

Vor allem im Pays d’Auge im Departement Calvados stehen noch viele der alten normannischen Fachwerkhäuser mit ihren Eichenholzbalken und einer Lehm-Stroh-Füllung. Zwischen Hecken erstrecken sich riesige Apfelplantagen und Streublumenwiesen; die braun gesprenkelten Rinder ähneln farblich den Fachwerkhäusern. Hier werden die drei normannischen C produziert: Camembert (Rohmilchkäse), Cidre (Apfelwein) und Calvados (Apfelschnaps).

Auch an Land sorgt der Klimawandel für Umwälzungen, er macht den Apfelbäumen zu schaffen, zugleich gibt es mittlerweile auch professionelle Weinbauern in der Normandie. Sébastien Fricker, der aus einer Winzerfamilie im Loire-Tal stammt, baut seit drei Jahren eigenen Wein an – Chenon und Chardonnay (weiß), Cabernet Franc und Cabernet Sauvignon (rot). Sein Land mit den sonnigen Hängen war früher eine Apfelplantage, der Boden ist lehm- und kalkhaltig und damit gut geeignet für den Weinanbau. „Im Süden Frankreichs ist es oft schon zu heiß“, sagt Fricker, während er die Weinlese seiner Leute koordiniert. „Der Wein hier wird fruchtiger, aromatischer.“ Ab nächstem Jahr will er mit dem Verkauf beginnen.

Apfelernte auf dem Hof der Calvados-Destillerie der Familie Groult Foto: Sabine Seifert

Fürs Erste bleibt die Normandie jedoch bekannt für ihren Apfelwein und -schnaps. 2025 war ein gutes Apfeljahr. Auf dem Hof der Destillerie der Familie Groult hat bereits Mitte September die Ernte begonnen, sie zieht sich bis in den Dezember. Zur Straße liegt das Stammhaus des alten Hofs, wo Verkostung und Verkauf stattfinden. Weiter hinten erstrecken sich große Hallen und Tanks für die Verarbeitung und Lagerung. Draußen liegen im Oktober zentnerweise Früchte zum Sortieren und Pressen bereit, ein Mitarbeiter kehrt die kleinen Mostäpfel in eine Rinne, rote, gelbe, grüne. Sie sind gerbstoffhaltiger, weniger süß als Essäpfel. Für Calvados muss die Mischung stimmen: verarbeitet werden 20 Prozent süße, 10 Prozent saure und 70 Prozent bittersüße Sorten.

Der kleine Familienbetrieb besitzt an die 30 Hektar eigene Apfelplantagen mit mehr als 6.000 Bäumen. 35 Sorten werden hier angebaut und verarbeitet. Kühe beweiden zeitweise die Obstgärten und düngen so auf natürliche Weise den Boden, Fledermäuse gehen auf Jagd des schädlichen Apfelwicklers, Bienen aus eigenen Stöcken bestäuben die Blüten. Ein Biolabel haben und brauchen sie hier nicht, sagt Firmeninhaberin Estelle Groult. Schon seit frühester Kindheit roch es in ihrem Elternhaus intensiv nach Apfel, besonders wenn die Pressen arbeiteten. Der Trester (Pressrückstände) wird an die Tiere verfüttert.

Die 49-Jährige leitet seit 2022 die Geschäfte und führt auch persönlich übers Gelände. „Die Pflege der Obstgärten bedeutet sehr viel Arbeit“, erzählt sie. „Wir warten, bis der Apfel vom Baum fällt.“ Cidre produziert man hier auch, aber nur für die Herstellung von Calvados. Für den Cidre wird der Saft der gemosteten Äpfel in großen Tanks ein Jahr lang natürlich fermentiert. Anschließend wird der Cidre in Messingkesseln über Holzfeuer destilliert – zweifach. Das ergibt den klassischen Apfelbrand (Eau de vie), der anschließend mindestens zwei Jahre in Eichenfässern zu Calvados reift.

Die Familie Groult produziert in fünfter Generation Calvados, und jede Generation hat ihren eigenen Fasskeller angelegt. „Wir haben wirklich viel Calvados“, sagt Estelle Groult und schließt einen Keller nach dem anderen auf. Wobei unter „Keller“ scheunengroße und ungeheizte Gebäude zu verstehen sind, darin Fässer in langen Reihen. Die Lagerung in Eichenfässern ist wichtig für die geschmackliche Note des Calvados. Groults Großvater erwarb riesige Exemplare, die an die 13.000 Liter fassen. Sie seien damals schon alt gewesen, erzählt sie. Etwa 40 dieser Fässer gibt es noch heute, man braucht eine Leiter, um an ihnen hochzuklettern.

Je älter das Holz, desto geschmacksintensiver ist der Alkohol. Sherry-, Portwein- oder Whisky-Fässer liefern jeweils andere Geschmacksnoten. Das Holz atmet, der Alkohol kann verdunsten: Das ist der berühmte Angels’ share, „la part des anges“ auf Französisch. Auch werden die Fässer nie ganz geleert, sondern nach Bedarf aufgefüllt. So müssten sich rein rechnerisch in den älteren Fässern noch einige Tropfen jahrzehntealter Calvados befinden.

Das Weingut bietet Führungen und auch Verkostungen an. „Einen Erlebnispark will ich hier nicht machen“, sagt Estelle Groult. Sie will den Betrieb nicht vergrößern, sondern die handwerkliche Tradition wahren und mit der Zeit gehen. Neu ist der Aperitifwein, eine Mischung aus Apfelsaft und gereiftem Calvados. „Autrement Pomme“ heißt er. Apfel anders.

Meerestiere und Cidre oder Calvados gehen bei einem Festtagsessen hervorragend zusammen. Cidre lässt sich zu allem trinken, Calvados wird gern zur Verdauung vor dem Dessert gereicht. „Remplir le trou normand“ – das normannische Loch füllen – heißt es, bevor man weiter isst und trinkt.

Transparenzhinweis: Diese Recherche wurde unterstützt von Normandie Tourismus.

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