Weihnachten und Pop-Musik: Carey ist der Weihnachtsmann
Mariah Carey ist nicht mehr nur eine Begleiterscheinung von Weihnachten. Sie ist die popkulturelle Personifizierung des Feiertags.
P op im 21. Jahrhundert bringt nichts Neues mehr hervor. Alle flüchten sich in Retrosounds und machen Platten, die genauso gut in den letzten fünf Dekaden erschienen sein könnten. So in etwa lautete die These des 2017 verstorbenen Kulturkritikers Mark Fisher, der befand, dass zeitgenössische Pop-Platten so anachronistisch klingen, dass sie bei Zeitreisenden aus den 80er-Jahren keinerlei Zukunftsschock auslösen würden. Sie würden eher erstaunt feststellen: „Pop klingt immer noch so?“ Fisher hatte dabei vor allem Mainstream-Phänomene der Nullerjahre im Blick: Amy Winehouse, Arctic Monkeys. Heute könnte man die Liste nostalgisch orientierter Popstars weiterführen: Dua Lipa, Adele, oder als radikalste Variante: Mariah Carey.
Was Mariah Carey nämlich macht, ist nicht einfach Sounds aus der Vergangenheit zu beschwören beim Produzieren ihrer neuen Platten. Nein, Carey produziert kaum mehr neue Musik, stattdessen greift sie direkt in die eigene Mottenkiste und covert sich im Grunde Jahr für Jahr selbst. Es ist immer derselbe Song, der immer um diese Jahreszeit mindestens in die Charts einsteigt, und seit vier Jahren tatsächlich auch die Nummer 1 in den USA erreicht: „All I Want For Christmas“, Careys schwungvoller Weihnachtshit aus dem Jahr 1994.
Während viele Popstars irgendwann beginnen, ihre großen Hits zu hassen, weil sie sich wie eine banale Verzerrung ihres Werks anfühlen – Madonna sagt, sie wolle „Like a Virgin“ nie wieder spielen, außer jemand zahle ihr 30 Millionen Dollar Gage –, scheint Carey genau das selbst zu machen, anstatt es der Welt zu überlassen: Ihren Namen und ihr Image auf diesen einen Song zu reduzieren. Und auf diesen Feiertag. Mit einer Kampagne, die jedes Jahr ein neues Mariah-Weihnachtsprodukt abwirft (diesmal ein Kinderbuch), fängt die Sängerin gewöhnlich am Tag nach Halloween bereits an, in weihnachtlichen Pyjamas vor die Kamera zu treten und die ersten Töne ihres Klassikers zu trällern.
Vor zwei Jahren gab es einen Weihnachtsfilm für Apple TV, dieses Jahr ein Weihnachtskonzert, das übers US-Fernsehen Millionen Haushalte erreichen soll. Mariah Carey ist nicht mehr nur eine Begleiterscheinung von Weihnachten. Sie ist zur popkulturellen Personifizierung des Feiertags geworden: Mariah, der Weihnachtsmann.
Reclaiming des eigenen Erfolgs
Ist das eine lockere Geldmaschine? Klar. Aber es wäre langweilig, das als einzigen Grund für diese Inszenierung zu sehen. Denn die 53-jährige R & B-Sängerin hat durchaus mehr Errungenschaften, auf die sie zurückblicken kann. Ganze 19 Nummer-1-Hits hat Carey in den letzten drei Dekaden gelandet, 18 davon selbst geschrieben und mitproduziert. Ohne Alben wie „Music Box“, „Butterfly“ oder „Rainbow“ wäre die Popgeschichte des 21. Jahrhunderts womöglich ganz anders verlaufen. Kaum denkbar, dass es ohne eine Mariah Carey je eine Rihanna, eine Beyoncé oder eine Ariana Grande gegeben hätte. Davon kann man sich als alternde Ikone in der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie aber, rein bildlich gesprochen, nicht viel kaufen.
Dazu ist spätestens seit der kürzlich erschienen Autobiografie bekannt, wie Mariah Careys Bilderbuchkarriere geprägt war von einem gewalttätigen Ex-Mann und Produzenten, der Carey zuerst zum Star macht und dann zerstören will; und einer Familie, die sie als Kind vernachlässigt und missbraucht, um sie später auszubeuten und am Tiefpunkt ihrer Karriere gegen ihren Willen in eine Psychiatrie einzuweisen.
So mutet das unaufhörliche Covern ihres Weihnachtshits mehr wie ein Reclaiming des eigenen Erfolgs an, den Carey an seinem Höhepunkt nie feiern konnte. Die Nostalgie in ihrem ulkigen Weihnachtsfetisch erscheint wie die Sehnsucht nach einer Kindheit, die es so nie gegeben hat. Für den Fall, dass ein paar Zeitreisende also fragen sollten: „Ihr hört immer noch Mariah Carey?“, kann man getrost sagen: „Ja.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?