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Weihnachten ist auch nicht mehr dasselbeHoly Shit

Werden an Weihnachten wenigstens in den Herzen Ruhe und Frieden einkehren? Sogar Kinder haben da inzwischen ihre Zweifel.

Endlich naht das Fest der Liebe – oder? Foto: Patrick Pleul/dpa

G ott sei Dank, is’ bald Weihnachten!“, sagt der Herr im Drogeriemarkt vor dem Schokoladenregal. „Ach, Jörg“, sagt seine Frau, „als würd’ das was ändern!“

„Nicht ändern, aber mal ’n Moment Ruhe einkehren lassen, Frieden im Herzen, Ulrike!“

Eine Mitarbeiterin sagt: „Ich les’ schon seit ’ner Woche nur noch Promi-Nachrichten, ich hab’ jetzt meinen Frieden!“

„Das hilft gegen den Kriegshorror? Sich nur noch mit Prominenten zu beschäftigen?“, fragt Jörg.

„Na ja, das sind zumindest Probleme, mit denen ich mich auskenne, die ich theoretisch selber lösen könnte!“

„Und wer hat da grade Probleme?“, fragt ein junger Typ.

„Na alle, das sind eben auch nur Menschen!“

„Die Kardashians haben noch ein Baby gekriegt!“, ruft jemand aus der Haarpflegeecke.

Promis sind auch nur Menschen

„Na, dann ist ja gut.“

„Bei so Superreichen und Promis hört man oft: Das sind auch nur Menschen, und bei Unterdrückten und Verfolgten: Das sind auch Menschen.“

„Verräterischer Sprachdreck!“

„Na, so etwas wollten wir jetzt doch nicht mehr erwähnen und uns einfach mal auf Weihnachten freuen!“, ruft Jörg.

„Nee, nee, der Herr, einfach ist nix, und ich kann mich auch nicht mit einem Kardashian-Baby beschäftigen oder dem Tod von Hans Meiser, stellvertretend für all die anderen Toten und Babys, die …“

„Stopp, bitte, stopp, im Namen der Mitmenschlichkeit! Ich will es nicht mehr hören! Diese Horrorstorys von den Babys, ich kann nicht mehr schlafen, ich weiß nicht, wie ich das verarbeiten soll.“

„Geht mir auch so. Und es gibt doch so schon genug Leute, die seit Corona auf einen Therapieplatz warten“, sagt eine Frau und riecht an einem Duschgel.

„Ja, ja, das sind Probleme!“, ruft eine andere, „ein warmer Therapieplatz und ob das Duschgel für 1,30 Euro auch genug vanillig riecht, während andere Leute nicht mal Wasser haben!“

Die Frau stellt es schnell zurück ins Regal und sagt: „Probleme wachsen oder schrumpfen nicht, wenn man auf andere guckt, und warum muss ich mir wieder und wieder Folter und Horror reinziehen, das ändert nichts!“

Es ist doch keine Lösung, alles wegzudrängen und sich auf Weihnachten zu freuen

„Aber es ist doch auch keine Lösung, alles wegzudrängen und sich auf Weihnachten zu freuen!“

„Es geht doch nicht um Lösungen, wer soll jetzt hier in der Schanze oder Eimsbüttel irgendwas lösen?!“

„Ich freu mich sowieso nie auf Weihnachten, wieso sollte man sich darauf freuen?“, sagt der Typ.

„Es ist das Fest der Liebe“, sagt ein Kind.

„Wie alt bist du?“, fragt der Typ.

„Zehn!“

„Und was denkst du, ist Liebe?“

„Wenn alle voll nett zueinander sind!“

„Und was glaubst du, warum Erwachsene nicht nett zueinander sind und so?“

Der Vater kommt um die Ecke und sagt:

„Jetzt ziehen sie nicht mein Kind da rein!“

Das Kind sagt: „Aber ich will meine Meinung sagen!“

„Und was ist deine Meinung?“, fragt Ulrike.

Es ist der Kapitalismus

„Ich glaub’, weil die Erwachsenen Geld verdienen müssen, deshalb haben die Probleme und immer Stress und sind gemein zueinander!“

„Ich sag’s ja, es ist der Kapitalismus, das kapiert doch jedes Kind!“, sagt Ulrike.

„Du kannst nicht immer dem Kapitalismus für alles die Schuld geben!“, sagt Jörg.

„Wieso muss man überhaupt irgendwas oder irgendwem die Schuld zuordnen?“, fragt die Mitarbeiterin.

„Ohne Schuld keine Lösungsstrategie!“

„Ja, genau, und ich glaube an den Weihnachtsmann.“

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Jasmin Ramadan
Jasmin Ramadan ist Schriftstellerin in Hamburg. Ihr neuer Roman Roman „Auf Wiedersehen“ ist im April 2023 im Weissbooks Verlag erschienen. 2020 war sie für den Bachmann-Preis nominiert. In der taz verdichtet sie im Zwei-Wochen-Takt tatsächlich Erlebtes literarisch.
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