Was heute politisch ist: Überall und nirgendwo

Konsum und Lebensmittel werden zunehmend ideologisiert. Das ist Ausdruck einer Hyperpolitik: Alles ist politisch, aber immer weniger politikfähig.

Eine Currywurst schwimmt in rotem Ketchup

German Currywurst Foto: Kia Cheng Boon/imago images

Vor ein paar Wochen erklärte die französische Präsidentschaftskandidatin der konservativen Républicains, Valérie Pécresse, Französischsein bedeute, „einen Weihnachtsbaum zu haben, Gänsestopfleber zu essen, die Miss France zu wählen und die Tour de France“ zu schauen.

Schon seit einiger Zeit streitet Frankreich darüber, ob foie gras (Gänsestopfleber) ein Kulturgut oder schlicht Tierquälerei ist. Bei der Mästung wird den Tieren über mehrere Tage hinweg ein 50 Zentimeter langes Metallrohr in den Hals gerammt, über das Maisbrei in den Magen gepumpt wird. Die Produktion von Gänsestopfleber ist in der EU verboten. Frankreich umgeht das Verbot, indem es Gänsestopfleber zum Kulturgut erklärt hat. Einige grün regierte Rathäuser in Lyon, Straßburg und Grenoble haben die Delikatesse aus tierethischen Gründen bei offiziellen Abendessen von der Karte genommen, so wie der Weihnachtsbaum aus den säkularen Amtsstuben verbannt wurde.

Die Franzosen haben in ihrem revolutionären Furor schon einige heilige Kühe geschlachtet, Europa aber schon immer als À-la-carte-Menü verstanden. Insofern lässt sich die Sache mit der Gänseleber als Versuch deuten, die nationale Identität zu stärken. Doch es ist erstaunlich, dass Pécresse keine Persönlichkeiten oder Werke, sondern Konsumgüter und Events in ihrer Aufzählung nannte – und Dinge politisch auflädt, die eigentlich in der privaten Sphäre liegen.

Gelungene Integration bemisst sich demnach nicht nach Sprache oder Literatur, sondern nach Essverhalten und Dekoration. Franzose ist, wer Gänseleber isst. Auch hierzulande ist die Kulinarik Gegenstand identitätspolitischer Debatten. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder, der qua Amt auch die „Leberkäsetage“ vertreten muss, mokierte sich über Tofu-Wurst und Veggie-Burger, die „sinn- und geschmacklos“ seien.

Ideologisierung der Verbraucherpolitik

Unionfraktionschef Ralph Brinkhaus erhob die „Nackensteak-Esser“ zum „Rückgrat unserer Gesellschaft“. Und der neue grüne Verbraucherschutzminister Cem Özdemir wetterte kürzlich: „Ein gutes Motoröl ist uns wichtiger als ein gutes Salatöl.“

Die Ideologisierung der Verbraucherpolitik gibt es schon eine Weile, das zeigt die unsägliche Diskussion um den Veggie-Day, mit dem die Fleischesser-Fraktion die Grünen als Verbotspartei denunzieren wollte. Doch die – auf den zweiten Blick erstaunlich piefige – Diskussion um Salatöl und Gänseleber, die man eher in bunten Blättern und beim Kaffeekränzchen verorten würde, ist das Symptom einer zunehmenden Moralisierung und Politisierung von Lebensweisen. Was man auf dem Teller hat, ist politisch.

Der Philosoph und Historiker Anton Jäger hat kürzlich in einem Essay für das britische Magazin Tribute ein Revival des Politischen diagnostiziert. Die Postpolitik der 90er und 00er Jahre, in der Politik als Naturgewalt oder „alternativlos“ dargestellt wurde, werde durch eine „Hyperpolitik“ abgelöst. Fußball, Netflix-Serien, Social-Media-Profile – heute sei alles politisch. Vielen der politischen Rechten komme die Gesellschaft so vor, als sei sie von „einer permanenten Dreyfus-Affäre vereinnahmt, die Familienabendessen, Drinks unter Freunden oder Business-Mittagessen spaltet“, so Jäger.

Nun kann man es zunächst als demokratischen Gewinn verbuchen, wenn Politik nicht mehr in Hinterzimmern, sondern im öffentlichen Raum verhandelt wird. Das war ja die Forderung der Frauenbewegung, die mit dem Schlachtruf „Das Private ist politisch“ in den 60ern die scheinbar unverrückbaren bürgerlichen Institutionen wie Ehe und Familie aus den Schlafzimmern der Republik in die politische Arena zerren wollte. Doch der politische Konflikt, so Jäger, finde in der „Abwesenheit von Politik“ statt: „Fragen, was Menschen besitzen und kontrollieren, werden zunehmend durch Fragen ersetzt, wer oder was Menschen sind.“

In Kategorien einsortiert

Man besitzt keinen Porsche, sondern ist Porsche-Fahrer. Und als solcher wird man – wie als Raucher oder Fleisch­esser – in Kategorien einsortiert. Doch ob man SUV- oder Radfahrer ist, ist ja nicht nur eine Lifestyle-Frage, sondern auch eine Verteilungs- und mithin politische Frage: Wir atmen alle dieselbe Luft und teilen uns Straßen. Und da ist es schon von politischer Bedeutung, wie ein öffentliches Gut genutzt wird. Indem nun aber Verteilungsfragen zu Glaubensfragen überhöht werden, werden sie dem politischen Diskurs entzogen und der Privatheit überantwortet. Man ist Fleischesser, so wie man Bayern-Fan oder Katholik ist. Amen.

Ist der Rückzug ins Private vielleicht auch ein Fluchtreflex auf die Politisierung der Dinge?

Der Befund lässt sich auch auf die Impfdebatte übertragen. War der Pieks in den Oberarm früher Privatsache, ist er heute ein Politikum. Doch der Streit um Impfstoffe, Schulschließungen, Lockdowns etc. spielt sich ja allein nicht auf einer politischen Ebene ab – was implizierte, dass man den anderen mit Argumenten überzeugen könnte –, sondern auf einer erkenntnistheoretischen. Die einen halten das Virus für einen Fake, die anderen für eine reale Gefahr. Fakten werden nicht als gegeben anerkannt, sondern politisiert. Man müsste daher die Frage stellen, wie Politik unter postfaktischen Voraussetzungen funktionieren kann – und ob der politische Prozess mit der Entpolitisierung von Fakten beginnen müsste.

Nur: Wo fängt das Politische an, wo hört es auf? Ist der Rückzug ins Private vielleicht auch ein Fluchtreflex auf die Politisierung der Dinge, eine tiefe Sehnsucht nach dem Unpolitischen? Wer bestimmt eigentlich, was politisch ist und was nicht?

Wenn die Ethikrat-Vorsitzende Alena Buyx argumentiert, Essen sei „nicht nur Privatsache“, weil Ernährung externe Effekte wie soziale, ökologische und Krankheitskosten erzeuge, dann empfinden das viele als übergriffig, weil sie das Gefühl haben, der Staat sitze mit am Esstisch. Daher führen Konservative wie Valérie Pécresse und Ralph Brinkhaus ideologische Rückzugsgefechte und erklären den Teller zur letzten Bastion des Bürgerlichen.

Private Dinge ins globale Dorf hineinposaunen

Im antiken Griechenland waren die staatliche und häusliche Sphäre strikt getrennt. Was im Haushalt (oikos ) geschah, war Sache des Hausherrn. Doch in Zeiten des Internets, wo man privateste Dinge ins globale Dorf hineinposaunt, ist diese Trennung obsolet. Das Foto des Veggie-Burgers, das man auf Instagram teilt, ist auch ein politisches Statement: Seht her, ich verbrauche weniger Wasser und CO2!

Doch die Geländegewinne, die Hyperpolitik auf dem Feld der privaten Lebensführung erzielt, können nur um den Preis politischer Brachen erfolgen. Die Nackensteak-Esser, Impfverweigerer und SUV-Fahrer räumen das politische Feld, weil sie schon die Sozialität ihres Handelns negieren. Zurück in ihren ideologischen Trutzburgen, werden sie weiter in ihrem selbstreferenziellen Lagerdenken bestätigt.

Die Folge dieser Totalisierung des Politischen ist also auch eine Entpolitisierung von Prozessen, weil sich immer mehr Menschen vom politischen System abwenden und ihren Körper immer vehementer gegen den politischen Körper (staatliche Organe wie Regierung und Parlament) in Stellung bringen.

Nach dem Motto: Was ich mir an Proteinen (Fleisch, Impfstoffe) zuführe, ist meine Sache! Die Fragmentierung der Öffentlichkeit führt dazu, dass in sehr vielen Echokammern der Anspruch des Allgemeinverbindlichen erhoben wird, dieser aber nicht eingelöst werden kann, weil die Spielregeln nicht akzeptiert werden.

Dilemma postmoderner Demokratie

Das ist ein Dilemma postmoderner Demokratien: Es ist zwar alles politisch, aber nicht alles politikfähig. Die EU kann Glühbirnen und Plastiktüten verbieten, aber – aus gutem Grund – keinen Speiseplan diktieren. Die großen Fragen unserer Zeit wie der Klimawandel oder die Pandemie werden nicht in Parlamenten, sondern im Privaten entschieden.

Der individuelle Konsum – oder in der Diktion des Bundesverfassungsgerichts: „Freiheitsgebrauch“ – von heute bestimmt darüber, was wir morgen auf dem Teller haben werden. Doch gerade weil das keine privaten, sondern politische Fragen sind, müssen sie im öffentlichen Raum verhandelt werden.

Wenn alle mit am Tisch sitzen, hat auch niemand das Gefühl, dass ihm etwas vom Teller genommen wird.

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