Warum TikTok so toll ist: Zufluchtsort in Boomer-Deutschland
Was für andere der Fernseher, ist für unsere Kolumnistin TikTok, nur besser: Der Algorithmus schneidet das Programm schön zu, Zombies bleiben draußen.
I ch werde Zeug*in eines Streits unter vier Leuten. Es ist unklar, weshalb sie sich in den Haaren liegen. Mittendrin fängt einer der vier leidenschaftlich an zu tanzen, während zwei andere sich gegenseitig beleidigen. Die letzte im Bunde hält sich eher raus. Über sie kursieren Gerüchte, sie sei in den Fängen eines Freiers, der sie zur Sexarbeit zwingt.
Belege gibt es dafür keine. Doch auf TikTok, dem Ort des Geschehens, verbreitet sich so was unkontrolliert. Ich scrolle weiter. Ein Satanist. Ich scrolle weiter. Bushido-Peiniger und Clan-Mitglied Arafat Abu Chaker macht sich über irgendjemanden lustig. Befremdlich, dass er die Plattform so für sich nutzen kann. Andererseits wundert es mich nicht. Schließlich treiben auf TikTok Salafist*innen, die teils vom Verfassungsschutz beobachtet werden, ihr Unwesen, und die AfD und Polizei machen da genauso auf harmlos.
Ich verlasse den inhaltlich chaotischen Live-Modus und switche zu vorgedrehten Clips auf meiner For You-Page. Hier bin ich zu Hause, hier fühle ich mich wohl. Live Laugh Love. Eine Ex-Mormonin erzählt mit der nötigen Dramatik, warum sie ausgestiegen ist. Auf sie folgt das Video eines Fluglotsen, der auf dem Flugfeld zu Beyoncé voguet. Meine Füße wippen mit. Bis ich zusehe, wie der reichweitenstarke Account einer Frau sich gegen die „Haram-Polizei“ auf TikTok wehrt und sie zurechtweist. Bravo!
Was für andere der Fernseher ist, ist für mich TikTok. TikTok hat die Vorteile, die ich mir als Kind vom TV gewünscht habe: Der Algorithmus schneidet das Programm auf mich zu, zumindest auf der For You-Page. Ich zappe mich durch und aller Wahrscheinlichkeit nach begegnet mir ein Clip, den ich meinen Friends schicke, um sie etwas aufzuheitern in diesen dystopischen Zeiten.
Uncoole Leitbilder?
Anfangs habe ich nichts mit TikTok anfangen können. Ich fands uncool, was die Betreiber*innen für Leitbilder haben. Denn wenn man sich TikTok runterlädt, springen einem zunächst teils minderjährige schlanke Mädchen und Frauen tanzend entgegen. Ich frage mich, was das für eine Drecksplattform ist, die junge Mädchen für den eigenen Profit ausnutzt, um direkt User*innen an sich zu binden.
Die Risiken und Nebenwirkungen der App sind bekannt. Recherchen haben dem Algorithmus unlängst böse Absichten nachgewiesen: Dicke und queere Menschen werden benachteiligt in ihrer Reichweite, bei Jugendlichen können sich negative Gedanken verfestigen und der Algo ist darauf ausgelegt, süchtig zu machen. So wichtig es ist, auf diese Tücken aufmerksam zu machen, so ist eine Entertainment-App nur so gut und schlecht wie die Gesellschaft, aus der sie wächst.
TikToks gute Seiten sind die Erfrischung, die dem ranzigen Boomer-Deutschland fehlen. Progressive politische Inhalte werden diskutiert und gelebt, ohne dass Harald Martenstein oder Alice Schwarzer dazwischenquatschen. Ein kleiner Zufluchtsort, den ich nach dem Schreiben dieser Kolumne wieder aufsuche.
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