Warteschlangen vorm Ausländeramt: Anstellen nachts um 4 Uhr
Die Ausländerbehörde in Hannover hat einen enormen Bearbeitungsrückstand. Leidtragende sind die Migrant:innen, die dringend Papiere brauchen.
Schätzungsweise 200 Leute sind es an diesem Montagmorgen. Aber nur die ersten 90 werden noch einen „Spontan-Termin“ abbekommen und dürfen dann mit einem Zettel in der Hand weiter warten.
Einer, der darauf hofft, ist Jarwed A.: „Eigentlich sollte ich heute anfangen zu arbeiten. Auf der Baustelle“, sagt der junge Mann, der ursprünglich aus Afghanistan stammt und seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Leider fehle ihm noch die erforderliche Arbeitserlaubnis, erzählt er. Seit fast einem Monat bemühe er sich, die zu bekommen.
Er habe E-Mails geschrieben, auf die nicht mehr als eine automatische Antwort mit der Bitte um Geduld gekommen sei. Er habe versucht anzurufen, sei aber nicht durchgekommen. Nun stehe er schon zum dritten Mal hier – und hat wieder kein Glück. Er weiß noch nicht, wie er das dem neuen Chef sagen soll, sagt er. Dem habe er bis jetzt nur etwas von „dringenden Behördengängen“ geschrieben.
Das Problem ist seit Wochen bekannt
Doch während Jarwed A. das Ganze noch relativ gelassen nimmt, sind andere schlicht verzweifelt. „Ich kann nichts machen, ohne Papiere“, sagt eine Frau, die auch anonym bleiben möchte. „Kein Geld, kein Deutschkurs, kein gar nichts.“
Das prangern auch die Flüchtlingsinitiativen an, die einen offenen Brief an Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) verfasst haben. Dem dürfte das Problem allerdings längst bekannt sein. Schon Anfang September berichtete die Hannoversche Allgemeine Zeitung zum ersten Mal von den Problemen bei der Ausländerbehörde – und auch von tumultartigen Szenen in den frühen Morgenstunden.
Deshalb schickt die Stadt jetzt gleich drei Männer in den dunklen Uniformen des Ordnungsdienstes vor die Tür, um die Warteplätze zu vergeben. Die teilen erst die Nummern aus und stehen dann noch eine halbe Stunde auf dem Gehweg in einer Traube von Menschen, die leer ausgegangen sind.
Viele bestürmen sie mit Fragen, versuchen zu erklären, wie dringend ihr Anliegen ist, halten den Männern Zettel unter die Nase, Anschreiben, die sie nicht verstanden haben, Duldungen, die abgelaufen sind. „Es tut uns leid“, sagen die Uniformierten wieder und wieder. „Versuchen Sie es morgen wieder. Oder Mittwoch, mittwochs ist weniger los.“
Mehr als um Verständnis zu werben und dafür zu sorgen, dass die Lage nicht eskaliert, können sie allerdings nicht. „Die Behörde war drei Monate geschlossen wegen Corona. Da sind 3.600 Termine ausgefallen. Die müssen jetzt alle nachgeholt werden“, sagt einer und hebt beschwörend die Hände. „Die Jungs und Mädels tun was sie können, glauben Sie mir das.“
Von einem Berg aus 5.000 unbeantworteten E-Mails spricht sein Kollege. „Besser anrufen“, sagt er und dass die Wartenden protestieren, weil sie das natürlich alle längst vergeblich versucht haben: „Ja, ja, ich weiß, das ist die Hölle.“
Bei den Bürgerämtern oder der KfZ-Zulassungsstelle kann man online Termine buchen – und hat dann zumindest eine Terminbestätigung, die man vorzeigen kann. Bei der Ausländerbehörde geht das nicht. „Der Kalender wurde während des Corona-Lockdowns außer Funktion genommen, da keine Termine zu vergeben waren“, sagt Stadtsprecher Udo Möller auf taz-Anfrage. Auch jetzt seien die Kapazitäten zu begrenzt.
Für den Bereich Personal zu bekommen ist nicht einfach
Eine pauschale Verlängerung von Duldungen, Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen, wie sie einige Flüchtlingsorganisationen fordern, könne die Stadt Hannover aber auch nicht im Alleingang beschließen, sagt Möller. Dazu bräuchte es bundesweite Regelungen.
Möller weist vor allem die These zurück, die Stadtverwaltung würde hier menschenunwürdige Zustände dulden oder in Kauf nehmen. Die Problemlage sei allen bewusst und bekannt, sagt er. Und man versuche ständig, die Erreichbarkeit zu verbessern und die Kapazitäten zu erhöhen. Unter anderem seien vier ehemalige Mitarbeiter:innen in den Bereich zurückgeholt worden.
Ähnliche Probleme auch ohne Corona
Weil die Materie so komplex ist, kann man aber auch nicht mal eben Verwaltungsmitarbeiter:innen aus anderen Bereichen abziehen und hier einsetzen, die Einarbeitung dauert Wochen, wenn nicht Monate.
Ab November solle es „Einlasskorridore“ nach vorheriger Anmeldung geben, um die endlos langen Warteschlangen einzudämmen, sagt Möller. Auch dafür braucht es allerdings erst einmal eine EDV-Lösung und zusätzliches Personal.
Zehn Stellen habe die Behörde ausgeschrieben, erst zwei haben besetzt werden können. Der Bereich zählt nicht zu den begehrtesten Verwaltungsstellen, gilt als schwierig und stressig. Auch ohne Corona ist er deshalb störanfällig, in den vergangenen Jahren ist es auch in anderen Städten immer wieder zu ähnlichen Problemen gekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind