Wanderarbeiter in Europa: Ein Münchner aus Pasardschik
Der Bulgare Vasil Damyanov lebt in Deutschland, putzt in Kitas und Ministerien. Trotzdem ist er obdachlos, denn sein Geld schickt er nach Hause.
Ist das Wetter schön, geht kaum jemand ohne Flasche Bier in der Hand über die Reichenbachbrücke. Die Auenwiese auf der anderen Isarseite ist die angesagteste Liegewiese der Stadt. Im Sommer, wenn es heiß ist und das Isarwasser nicht mehr ganz so kalt, stehen edle, handgenähte Halbschuhe am Ufer des Flusses. Die Füße, die dazu gehören, werden gerade gekühlt.
Einige Kinder toben durch die Mittagspause eines Businessmünchners. Auch der schlürft an einer Flasche Radler. Wenn er geht, lässt er die Flasche einfach stehen. Kommt schon weg, wird er sich denken. Sie kommt weg.
„Das Geld, das ich verdiene, schicke ich zu meiner Familie nach Bulgarien. Alles.“ Vasil Damyanov erzählt das. „Dann sammle ich Flaschen, davon kaufe ich mir zu essen und zu trinken.“ Er zuckt mit den Schultern. So ist das eben. Es ist sein Leben.
Die Reichenbachbrücke kennt er besser als die Schönwetterflaneure, die zum Händchenhalten oder Sonnenbad an die Isar kommen. Drei Jahre lang hat er dort gewohnt. Zusammen mit um die 30 Landsleuten aus Bulgarien hatte er sich eingerichtet, so gut man sich eben einrichten kann unter einem Brückenbogen. Decken gespannt, ein paar Bretterverschläge zusammengezimmert. Aus Sperrmüll waren wieder Möbel geworden.
Ein leerer Einkaufswagen stand vor dem Brückenbogen, für die Pfandflaschen vom Kultkiosk an der anderen Brückenseite. Man kannte sich zwar nicht, hatte sich aber aneinander gewöhnt. Die Freizeitler wussten, was sie an den Flaschensammlern hatten. Die Flaschensammler hatten jede Menge Flaschen.
Das ist vorbei. Im November wurde der Brückenbogen geräumt. Der Boden unter dem Brückenbogen ist mit einer Plane abgedeckt. Vasil Damyanovs zugiges Asyl von ehedem ist nun mit Bauzäunen abgeriegelt. Der Stadt ist es ernst. Die Räumung im November ließ sich gut begründen. Kälteschutz. Und jetzt? Die vertriebenen Bulgaren haben die Möglichkeit, die Notübernachtungseinrichtung in der ehemaligen Bayernkaserne zu nutzen.
Für Damyanov ist das keine Alternative. Er mag die Alkoholiker nicht, die dort übernachten, es gebe Probleme mit dem Wachschutz, sagt er. Damyanov übernachtet unter freiem Himmel. Wo er in der vergangenen Nacht geschlafen hat, möchte er nicht sagen. „Draußen.“ Mehr als seinen Namen ist er nicht bereit preiszugeben. Natürlich würde er gerne in einer Wohnung leben.
So wie die befreundete Familie, die wie er aus dem bulgarischen Pasardschik kommt, bei der er sich zwei Mal in der Woche duschen kann. Er möchte raus aus der Obdachlosigkeit. Er möchte arbeiten und leben. In München. Er weiß, dass ihm das zusteht. Er nutzt die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Union.
„Da war das Wappen“
Jahre der Obdachlosigkeit liegen hinter ihm. Ist er gescheitert? Er bestreitet das. Er arbeitet regelmäßig. Stolz erzählt er, dass er bei einer Putzfirma schon ein eigenes Profil hat. Seine Stärke: Fenster putzen. Regelmäßig bekommt er Jobs. Minijobs. Mal nur eine Woche, mal arbeitet er ein oder zwei Monate am Stück. Er hat in Bürogebäuden geputzt, in Schulen, in Kindergärten. Das saubere München wird auch von Wohnungslosen keimfrei gehalten. Darauf ein Bier an der Isar.
„Ich habe sogar beim Präsidenten geputzt“, sagt Damyanov. „Da war das Wappen“. Nun ja, einen Präsidenten gibt es in Bayern nicht. Aber mit dem Wappen hat er schon recht. In der von ihm genannten Adresse am Oskar-von-Miller-Ring unweit der edlen Ludwigstraße hat sich das Digitalministerium des Freistaats Bayern eingemietet. Wohnungslose schrubben für die digitale Zukunft. Die Reiningungsfirmen in der Stadt sind angewiesen auf die Arbeitskraft, die ihnen unter anderem die Bulgaren aus Pasardschik anbieten.
Auch auf dem Bau sind Hilfskräfte gefragt, und wer in München abends ausgeht, der wird an so mancher Kneipentür einen Aushang finden: Aushilfen für Küche und Service gesucht! Die Arbeitslosenquote in München liegt bei 3,2 Prozent. Bei der Arbeitsagentur hier spricht man von einem hohen Personalbedarf, von dem „alle Personengruppen profitieren würden“. Kein Wunder, dass einer wie Damyanov sich etwas verspricht von München.
In seiner Heimat wissen sie, dass er lange unter der Brücke gelebt hat. Er erzählt, wie schwer es war, davon zu erzählen. Regelmäßig hat er seine Familie besucht, ist immer wieder zurückgekehrt nach München unter die Brücke. Hat sich im Sommer morgens in der Isar gewaschen und im Winter Flaschen gesammelt, um sich die 2,20 Euro für eine Dusche im Müllerschen Volksbad zusammenzukratzen. Der gewaltige Jugendstilbau direkt am Isarufer mit seinem zum Wahrzeichen taugenden Turm ist eine der schicksten Saunalandschaften der Stadt.
Münchnerinnen und Münchner schwitzen sich da ihren Wohlstandstress weg oder tun in den Schwimmbecken unter eindrucksvollen Tonnengewölben etwas für ihre Fitness. Ist das Becken geschlossen, kommen die Kunden fürs Dusch- und Wannenbad. Für sie gibt es gesonderte Öffnungszeiten. Man muss sich nicht begegnen.
Mehr Offenheit von Arbeitgebern
Vasil Damyanov sitzt im Infozentrum Migration und Arbeit, das die Arbeiterwohlfahrt (Awo) im Zentrum Münchens betreibt, als er über sein Leben erzählt. Zwischen 12 und 14 Uhr werden die Büroräume zum Treffpunkt für die wohnungslosen Bulgaren, von denen etliche bis zur Räumung unter der Reichenbachbrücke gelebt haben. Sie können einen Kaffee trinken oder Wasser, sich auf den Toiletten frisch machen. Es ist laut. Es gibt Streit. Eine Frau schreit in ihr Telefon. Männer brüllen sich an.
„Als wir angefangen haben, wollten wir keine Security in unseren Räumen dulden“, sagt Savas Tetik, der Leiter der Einrichtung. Jetzt steht doch ein zurückhaltender Sicherheitsmensch in Uniform auf dem Flur. „Die Menschen hier stehen unter extremem Druck, sie sind nicht ausgeschlafen. Viele haben psychische Probleme“, sagt Tetik. Es geht nicht anders. „Schscht, leise bitte“, sagt einer. Die Männer schreien weiter. Den jungen Mann, der vier Stühle zusammengeschoben hat, um sich darauf ausstrecken zu können, stört das nicht. Er schläft.
Das Gespräch mit Damyanov findet in Tetiks Büro statt. Er übersetzt aus dem Türkischen, wenn dem Bulgaren, der zur türkischsprachigen Minderheit in seinem Land gehört, die deutschen Worte fehlen. Damyanov erzählt ruhig, scheint seine Worte zu wägen, bevor er spricht. Wenn ihm etwas besonders wichtig ist, wechselt er ins Deutsche. Er kann es besser, als ihm das selbst bewusst ist.
Savas Tetik ist oft als Übersetzer gefragt. Gerade hat er ein Projekt angeschoben, mit dem die wohnungslosen Arbeiter mit möglichen Arbeitgebern zusammengebracht werden sollen. Auch wenn sich Tetik mehr Offenheit von so manchem Arbeitgeber wünscht, ist er doch glücklich, dass sich schon etliche Firmen gemeldet haben. Aus dem Baugewerbe und dem Reinigungsgewerbe kommen die meisten. Aber auch ein Fischzuchtunternehmen sei dabei gewesen.
Aber auch Tetiks Klientel muss erst noch vorbereitet werden auf ein normales Bewerbungsverfahren. „Wenn sie einen Fragebogen zu ihrem Leben und ihrer Ausbildung ausfüllen sollen, dann halten das viele für Zeitverschwendung. Die wollen probearbeiten, zeigen, was sie können, und einfach loslegen“, sagt Tetik. Und wenn es dann doch nicht klappt mit einem Job, dann seien viele nicht nur sauer auf den Arbeitgeber, sondern auch auf ihn. Er habe ihnen Zeit gestohlen, in der sie vielleicht einen Tagelöhnerjob bekommen hätten.
„Wegen dir habe ich 100 Euro verloren, sagen sie dann.“ Er kann sie verstehen. Auch Vasil Damyanov interessiert sich für das Job-Matching-Programm der Awo und gibt Tetik seine Telefonnummer.
Er trägt immer alles bei sich
Dienstags kommen Aktivisten der Initiative für Zivilcourage in die Räume in der Sonnenstraße. Sie helfen den Menschen, die sie darum bitten, bei der Behördenpost, rufen bei Arbeitgebern an, die wieder einmal keine Löhne gezahlt haben, schreiben Widersprüche, wenn sie feststellen, dass wieder einmal eine Kündigung nicht formgerecht ausgestellt worden ist.
Ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht und Händen, die nur aus Hornhaut zu bestehen scheinen, muss für das Jobcenter seine letzten drei Kontoauszüge vorlegen. Er bekommt einen Zettel, auf dem das Anliegen steht. Die Sprachkenntnisse des Mannes reichen nicht, um sich dem Schalterangestellten bei der Postbank verständlich zu machen.
Ein anderer braucht Nachweise über seine Beschäftigung im letzten Jahr. Alle seine Unterlagen sind verbrannt, als im vergangenen Herbst unter der Reichenbachbrücke ein Feuer ausgebrochen ist. Viel mehr als sein Leben hat er nicht mehr, auch keine Ausweispapiere. Ein Dritter zeigt die Kündigung, die er von der Bavaria Cleaning erhalten hat, während er im Krankenhaus war.
Aus seinem Rucksack zieht er eine Stapel von Klarsichthüllen. Seine Papiere, seine Korrespondenz. Er trägt immer alles bei sich. Die Taschen, Plastiktüten oder Rucksäcke, mit denen sich die Wohnungslosen durch die Stadt bewegen, sind auch wegen der Dokumente so schwer.
Die Aktivistinnen der Initiative für Zivilcourage tun ihr Bestes. Eine spricht Serbokroatisch, was diejenigen, die Bulgarisch sprechen, leidlich verstehen. Die anderen verständigen sich, so gut es eben geht, auf Deutsch mit den Hilfesuchenden. Es funktioniert. Irgendwie.
Auch Vasil Damyanov hat ein Anliegen. Er zeigt eine Quittung, aus der hervorgeht, dass er eine Geldstrafe von 1.500 Euro gezahlt hat. Auf der Rückseite steht noch eine Zahl. „Muss ich noch 700 zahlen?“, fragt er. Muss er nicht. Die Zahl ist nur ein allgemeiner Hinweis auf die Höhe eines Tagessatzes. Alles gut. Ein Freiwilliger, der an diesem Dienstag beim Worker’s Café der Initiative als Berater dabei ist, kann Damyanov bald beruhigen.
Was er gemacht hat? Er versucht es zu erzählen. Alkohol war im Spiel. Und ein Freund. Der hat ihn beschissen, ihm ein gestohlenes Handy untergeschoben. „Das war nicht gut“, sagt er. Aber seine Strafe hat er gezahlt.
Nicht selten haben es die freiwilligen Helfer mit Strafbefehlen zu tun. Häufig geht es ums Schwarzfahren. Etliche der Wohnungslosen aus Bulgarien sind schon im Gefängnis gelandet, weil sie die Strafen, die sich angesammelt hatten, nicht bezahlen konnten. Vasil Damyanov weiß, wie gefährlich es ist, ohne Ticket in eine U-Bahn zu steigen. Er erkennt viele Kontrolleure.
„Ich weiß, wie sie aussehen“, sagt er und erinnert sich an eine Zeit, „in der es mir sehr schlecht ging. Wenn ich nur zwei, drei Euro hatte, habe ich immer überlegt, kaufe ich mir jetzt eine Fahrkarte oder hole ich mir etwas zu essen. Natürlich bin ich zu Aldi gegangen.“
Die Initiative für Zivilcourage leistet nicht nur konkrete Hilfe, sie handelt auch politisch im Sinne der Wohnungslosen. Im Februar hatte das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf von Finanzminister Olaf Scholz verabschiedet, in dem es um die Bekämpfung illegaler Beschäftigung geht. Auch die informellen Jobbörsen, für die sich der Ausdruck Arbeiterstrich eingebürgert hat, sollen damit bekämpft werden.
Um das Anbahnen von Arbeitsverhältnissen zu verhindern, könnten dann Platzverweise gegen die Jobsuchenden ausgesprochen werden. Im Februar hatte die Initiative zu einer Demo gegen das Gesetz aufgerufen. „Die Repression wird sich so gegen die Arbeitnehmer*innen richten und schränkt die Handlungsmöglichkeiten gerade derjenigen ein, die ohnehin unter besonders prekären Bedingungen leben müssen“, heißt es in dem Aufruf.
Auch in München gibt es einen Arbeiterstrich. Er befindet sich in der letzten, weitgehend trachten- und proseccofreien Zone der Münchner Innenstadt. Unweit des Hauptbahnhofs, wo die Goethestraße auf die Landwehrstraße trifft, finden sich jeden Morgen die Arbeitssuchenden ein, die auf ein schnelles Jobangebot hoffen. Und weil auch dieses letzte Problemquartier der Stadt, zwischen Spielsalons, Imbissbuden und Import-Export-Läden, immer aufgeräumter wird, gibt es längst Anwohnerproteste.
Ein Maritim-Hotel, in dem ein Zimmer mehr als 300 Euro kostet, passt nicht so recht zu den zerfurchten Männergesichtern auf der Jobbörse. Auch deshalb ist der Treffpunkt bei der Awo am Rand des Viertels so wichtig. Ein paar Stunden in der Woche gibt es für die Wohnungslosen einen Raum, wo sich keiner an ihrer Existenz stört.
Türkischsprachige Minderheit
Die Anwesenden in der Büroetage in der Sonnenstraße kennen sich. Wie Vasil Damyanov kommen die meisten von ihnen aus der bulgarischen Stadt Pasardschik. Sie gehören der türkischstämmigen Minderheit an in der 70.000 Einwohner zählenden Kommune zwischen Plovdiv und Sofia. Das Schwermetall-Kombinat, das den Menschen über Jahrzehnte Arbeit gegeben hatte, gibt es schon lange nicht mehr.
Der Autozulieferer, der sich nun dort angesiedelt hat, bietet nicht genug Jobs. Die türkische Minderheit leidet besonders unter dieser Situation. So hat sich Damyanov vor acht Jahren mit seinem Vater in Richtung München aufgemacht. Die beiden wollten arbeiten, um die Familie in der Heimat unterstützen zu können, seine beiden Schwestern und die zwei Brüder. Als er in München eintraf, war er 18.
Zunächst hatten sie sogar eine Wohnung. Doch die war weg, als ein Arbeitgeber einfach nicht zahlen wollte. „Erst sollte ich eine Woche probearbeiten, dann habe ich weitergearbeitet. Aber ich bekam kein Geld.“ Sie konnten die Miete nicht mehr zahlen. Eine durchaus typische Geschichte, wie Savas Tetik später bestätigt. Wieder zuckt Damyanov mit der Schulter.
Über München möchte er nichts Schlechtes sagen, auch über die Münchner nicht. Freundlich seien sie. Als er unter der Brücke gelebt hat, haben ihm etliche regelmäßig Geld zugesteckt, haben ihm etwas zu essen geschenkt. Auch bei der Arbeit habe er viele freundliche Menschen kennengelernt.
Damyanov möchte in München bleiben. Seit einem Jahr hat er eine Tochter. Sera heißt sie, wie Damyanovs Mutter, die gestorben ist, kurz bevor sich der junge Mann mit seinem Vater auf den Weg nach München gemacht hat. Tochter Sera lebt bei seiner Frau in Pasardschik. Vor vier Monaten hat er beide das letzte Mal gesehen. „Das ist lange her.“
Seine Tochter gibt seinem Leben neuen Sinn. Das braucht er für sein Ziel, sich ein Leben in München aufzubauen. „Ich bin doch irgendwie auch in München groß geworden. Das ist doch meine Stadt“, sagt er. „Ich bin Münchner.“
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